ARCHIV

Das politische Buch

Leonore Ansorg:
Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR - Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg

Band 15 der Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; Metropol Verlag, Berlin 2005; 411 Seiten, mehrere Abbildungen und Dokumente; broschiert; 12,60 Euro; ISBN 3-938690-21-6

Das Zuchthaus Brandenburg-Görden war zu DDR-Zeiten berüchtigt und gefürchtet. Nur über Gerüchte drang über die harten Haftbedingungen etwas an die Öffentlichkeit. Erstaunlicherweise ist auch nach der Wende dieses Zuchthaus nur selten im Zusammenhang mit dem SED-Unrecht thematisiert worden. Mit dieser Arbeit bringt Leonore Ansorg Licht in ein finsteres Kapitel der DDR-Geschichte. Die Autorin beschreibt speziell die Verhältnisse im Zuchthaus Brandenburg, stellt sie aber in den Zusammenhang mit der offiziellen SED-Strafvollzugspolitik. Geschildert wird die Entwicklung in einer der größten DDR-Strafvollzugsanstalten von der frühen Nachkriegszeit bis zur politischen Wende 1989/90. Exemplarisch werden dazu für jede Phase einzelne Häftlingsschicksale beleuchtet. In dem gesamten Zeitraum haben sich zwar die Lebensbedingungen für die Gefangenen im Zuchthaus Brandenburg wenn auch innerhalb enger Grenzen verändert, aber die Grundeinstellung von Partei, Anstaltsleitung und Aufsehern ist konstant von Hass und Menschenverachtung geprägt gewesen. „Ihr müsst sie hassen lernen“, lautete eine der schlimmen Schulungsparolen, mit denen das Personal scharf gemacht wurde. Mit äußerster Sorgfalt werden alle Ausführungen mit Quellen belegt. Damit wird diese Dokumentation zu einem Fundamentalwerk über das Zuchthaus Brandenburg-Görden während der DDR-Zeit und gleichzeitig über den Strafvollzug an politischen Gefangenen in der DDR. Im letzten Kapitel wird die leider völlig unbefriedigende Aufarbeitung von SED-Unrecht durch die Justiz in mehreren Einzelfällen sehr deutlich dargelegt.

Jörg Barberowski:
Verbrannte Erde – Stalins Herrschaft der Gewalt
C. H. Beck Verlag, München 2012, 606 Seiten mit 74 zeitgenössischen Fotos. 29,95 Euro, ISBN  978-3-406-63254-9

Als Jörg Barberowski für dieses Buch mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2012 ausgezeichnet wurde, sagte Jens Bisky – Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung - in seiner Laudatio: „Wenn in den kommenden Jahren einer fragt: Was war das, der Stalinismus, dann wird man zum Regal gehen und ihm dieses Buch geben: Nimm und lies!“
In diesem glänzend geschrieben Schlüsselwerk über das bolschewistische Terrorregime wird ein System offen gelegt, das sich als klassenlos bezeichnete, in dem aber das absolute Gegenteil die Wirklichkeit darstellte. In keinem Land der Welt lebten die Menschen in einer solchen Angst, wie in Stalins Reich. Der Autor verweist auf die inzwischen zugänglichen Protokolle der Zentralkomiteesitzungen, auf den Schriftverkehr zwischen der Moskauer Parteizentrale und den Komitees in den Provinzen, auf unzählige Akten sowie Papiere Stalins, Molotows und weiterer politischer Führer. Gleichzeitig gibt auch der Einblick in die Akten der Geheimpolizei und der Justizbehörden ungewollt nach Jahrzehnten den Opfern eine Stimme. All das war nie für die Öffentlichkeit vorgesehen.

In dem gut gegliederten Text werden die historischen Voraussetzungen für die Entwicklung des stalinistischen Machtapparates analysiert, die sich aus den letzten 300 Jahren zaristischer Geschichte ergeben haben. Die persönliche Verantwortung für die Schrecken des Bürgerkriegs und die noch schrecklicheren Folgen für die Bevölkerung werden untersucht. Wie konnte es geschehen, dass der Diktator die eigene Partei zerstörte und das Offizierskorps vernichtete? Warum zerbrach der gesamte Staatsapparat? Es war keine von einer Ideologie erfüllte Armee, die für ihr Land im Zweiten Weltkrieg kämpfte. In keiner Armee der Welt wurden die Soldaten in dem Maße erniedrigt, wie in der Roten Armee. Das alles geschah auf höchste Order.

Der Autor widerlegt die Ansicht, dass der Stalinismus sich von unten durch Unterwürfigkeit und auch durch Einsichten entwickelt hat. Es war der absolute Anspruch eines gewaltsüchtigen Despoten, der anderen seinen Willen aufzwang und seine Welt zur Welt aller machte.
Die Bolschewiki wollten nicht nur eine neue Gesellschaftsordnung errichten, sie wollten auch den neuen Menschen schaffen. Geendet ist das Vorhaben in einer völligen Zerstörung der Gesellschaft mit entwurzelten Menschen. Die Kernfrage des Buches lautet: War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? In den sieben großen Kapiteln sucht er nach der Antwort auf diese Frage.

So ist ein gut lesbares, ausgezeichnetes Buch entstanden, das ganz gewiss zu den Standardwerken dieses großen Themas unserer Zeit zählen wird.

Julian Barnes:
Der Lärm der Zeit
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2017, 245 Seiten, gebunden; Preis 20,- Euro;   ISBN 978-3-462-04888-9

Es muss sein. Auch wenn es eine Wiederholung ist, muss dieses Zitat von Herta Müller hier eingefügt werden:

„Literatur kann das alles nicht ändern. Aber sie kann – und sei es im Nachhinein – durch Sprache eine Wahrheit erfinden, die zeigt, was in und um uns herum passiert, wenn die Werte entgleisen.“

Es ist die Lebensgeschichte – oder mindestens sind es Ausschnitte daraus – von einem der großen Komponisten im sowjetischen Russland, Dmitri Schostakowitsch, die hier in Form eines Romans vorgestellt wird. Doch ganz sicher hält sich der Text sehr dicht an der Lebenswirklichkeit dieser unverwechselbaren Persönlichkeit, dessen Leben die Musik ist.

Ein kurzer, eindringlicher Vorspann geht dem Text voraus:  Auf einem gottverlassenen Bahnhof in der Steppe muss der Zug halten. Zwei Reisende steigen aus und begegnen einem vom Krieg verstümmelten Bettler, der beinlos sich nur auf einem Rollbrett bewegen kann. Gemeinsam trinken sie Wodka und stoßen mit ihren Gläsern an. Einer, das ist Dmitri Schostakowitsch, macht dazu eine Bemerkung, die erst am Ende des Buches, als der Rahmen sich schließt, deutlich wird. Die drei ungleichmäßig gefüllten Gläser ergeben beim Anstoßen einen Dreiklang: „Ein Geräusch, das vom Lärm der Zeit rein war und alle und alles überdauern würde."

Es ist die Zeit der großen Säuberung, des stalinistischen Terrors, als die Oper von Dmitri Schostakowitsch „Lady Macbeth von Mzensk“ im Bolschoi-Theater in Stalins Gegenwart aufgeführt wird. Aber Stalin verlässt bereits in der Pause die Regierungsloge. Das ist ein unverkennbares Zeichen. Als dann auch noch die Prawda von „Chaos statt Musik“ und von der „Abkehr von der wahren Kunst des Sowjetvolkes“ spricht, ist sein Schicksal besiegelt, er ist ein toter Mann. Da sie - Stalins Schergen - immer nachts kommen, hält er sich bereit. Das Umschlagsbild des Buches sagt bereits alles: Da steht ein verängstigter Mann mit roter Krawatte und Mantel mit einem kleinen Koffer in der Hand und wartet auf etwas. Immer wieder kehrt der Autor in diese Szene zurück, wie ER (Schostakowitsch) nachts am Fahrstuhl auf seine Häscher wartet. Er will gerüstet sein für seine Verhaftung und der Familie das erniedrigende Ereignis ersparen. Die Atmosphäre dieser bedrückenden Szene von absoluter Finsternis ist einmalig dargestellt. Obgleich man selbstverständlich weiß, dass der Komponist diese Zeit überlebt hat, spürt man die Existenzangst. Es ist jedoch nicht nur die individuelle Angst, die hier beschrieben ist, es ist der lähmende Terror, der über dem ganzen Land liegt. Es kann jeden treffen, denn Schuld ist konstruierbar geworden.

Nach der allbekannten Rede von Nikita Chruschtschow im Februar 1956, in der mit dem Stalin-Kult gebrochen wird, wird alles anders - scheinbar. In einem folgenden Kapitel über diese politische Veränderung der Sowjetunion wird Anna Achmatowa mit den Worten zitiert: „Die Macht wurde vegetarisch.“ Plötzlich lobt man ihn als bedeutendsten Komponisten des Landes und macht ihn zum Vorzeigeobjekt des Sozialismus, und all das geschieht gegen seinen Willen. Doch er unterwirft sich, wird zum Opportunisten, um ein Stück persönliche Freiheit für seine Kunst zu retten. So korrumpiert man die einstigen Feinde und macht sie zu Verrätern voller Selbstzweifel an der eigenen Sache. Das war nicht weniger schlimm als die stalinistische Verfolgung.

Julian Barnes zeigt einen Menschen, der in diesem Spannungsfeld nur mit Hilfe seiner Musik überleben kann.

„Ein Geräusch, das vom Lärm der Zeit rein war und alle und alles überdauern würde."

Das ist großartig gelungen. Wer lesen kann, sollte dieses Buch lesen.


Wolfgang Bauernfeind:
Menschenraub im Kalten Krieg

Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2016, Taschenbuch, 248 Seiten mit mehreren s/w-Fotos und Dokumenten;  Preis  14,95 Euro;   ISBN  978-3-95462-666-3

„Die Macht der Arbeiterklasse ist groß und reicht so weit, dass jeder Verräter zurückgeholt wird oder ihn in seinem vermeintlich sicheren Versteck die gerechte Strafe ereilt.“ 
(Aus Befehl Nr.134/55 des Staatssekretärs für Staatssicherheit vom 7.5.1955)
Ein Buch, zu lesen wie ein Krimi, doch es ist bittere, ungeschönte Wahrheit, mit der hier Einblick in die kriminellen Methoden einer Staatsführung gegeben wird. Es sind mehr als ein Dutzend Einzelfälle – eine kleine Auswahl von den etwa 400 in der zuvor von Susanne Muhle erarbeiteten Dokumentation zum gleichen Thema (VERS-Nachrichten Nr.46, 2016, S.51) - die sich fast alle in den 50er Jahren und meistens in der „Frontstadt“ West-Berlin ereignet haben. Mit großer Sorgfalt ist der Autor jedem der damaligen Entführungsfälle nachgegangen und hat die Abläufe rekonstruiert. „Täter, Opfer, Hintergründe“ heißt der Untertitel und so sind die Beiträge auch angelegt. Da ist das Schicksal von bekannten und weniger bekannten Personen geschildert. Was waren das für Menschen, warum hatte die SED ein so großes Interesse an ihnen und wer waren die kriminellen Täter?
Ein Beispiel: Kurt Müller war nach Max Reimann zweiter Vorsitzender der westdeutschen KPD mit Wohnsitz in Hannover. Über Jahrzehnte hatte er seiner Partei gedient, doch 1949/50 hielt sie ihn für einen Verräter im Sinne Titos und Trotzkis. In Ungarn hatte der Prozess gegen László Rajk als Hauptschuldigen einer so genannten titoistischen Verschwörung stattgefunden. Die ostdeutschen Kommunisten wollten ihre innerparteilichen Abweichler dementsprechend disziplinieren. Kurt Müller sollte das Opfer werden, deshalb entführte man ihn mit fadenscheinigen Argumenten nach Ost-Berlin in die Zentrale der Stasi. Doch der gewünschte Erfolg blieb aus, der geplante Schauprozess kam nicht zustande. Die Stasi übergab Müller den Sowjets, und in Berlin-Lichtenberg erwartete ihn das Fernurteil aus Moskau – 25 Jahre. Das ist nur eine der Geschichten, die alle etwas gemeinsam haben: Sie sind Ausdruck einer verbrecherischen Machtausübung! Einige der Betroffenen waren ehemalige Funktionäre, die die Seiten gewechselt hatten, andere hatten wirksam und auch öffentlich Stellung gegen das SED-Regime eingenommen. Sie alle wurden zu Staatsfeinden erklärt und mit brutaler Gewalt oder Heimtücke Opfer von Menschenraub.

In seinem Schlusswort schaut Wolfgang Bauernfeind auf unsere Gegenwart, auf die heutigen Krisengebiete. Dabei zitiert er den Bericht von Amnesty International vom 11.7.2014, nach dem in der Ukraine in nur drei Monaten 222 Entführungen registriert wurden. In vielen anderen Regionen sieht es ähnlich aus. Missliebige Personen lässt man verschwinden – ein probates Mittel nicht nur im kalten Ost-West-Krieg, sondern auch heute.

Karl-Heinz Baum
Kein Indianerspiel – DDR-Reportagen eines Westjournalisten
Ausgewählt und herausgegeben von Jürgen Klammer  und mit einem Geleitwort von Dr. Anna Kaminsky
Ch. Links Verlag, Berlin 2017, Taschenbuch, 240 Seiten, mehrere Abbildungen; Preis 15,- Euro;   ISBN 978-3-86153-942-1

Über dreizehn Jahre von 1977 bis 1990 hat Karl-Heinz Baum als Korrespondent der Frankfurter Rundschau aus Ost-Berlin berichtet. Dabei wurde die Nacht vom 9. zum 10. November 1989 zweifellos zum Höhepunkt in seinem Journalisten-Leben. In der unvergesslichen Pressekonferenz von Günter Schabowski war er Zeuge als das weltverändernde Wort „Unverzüglich“ fiel. Danach stand er an der Bornholmer Brücke, wo die Grenzschilder ihre Bedeutung verloren hatten. In der FR erschien am 11.11.1989 sein Bericht mit dem Titel: „In dieser Nacht ging Berlin nicht schlafen“. Das ist dann auch der letzte Beitrag in der Auswahl der hier zusammengestellten Reportagen.

Zunächst beschreibt der Autor mit welchen einschränkenden Bedingungen die  Westjournalisten in ihrer täglichen  Arbeit zu kämpfen hatten. Alles war reglementiert, und die Stasi war stets dabei. Also war Einfallsreichtum erforderlich, um die Aufpasser möglichst ins Leere laufen zu lassen. Das aber war wirklich kein Indianerspiel, sondern bitterer Ernst. Für die Stasi waren die Westjournalisten Feinde, die sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischen wollten.

Die Auswahl der Reportagen liefert einen differenzierten Einblick in die Abläufe innerhalb der DDR. Dabei erfolgt eine Einteilung in verschiedene gesellschaftliche Felder: Journalistisches Arbeiten / Schule und Jugend / Alltag und Leben / Kirche / Opposition, Verfolgung, Mauerfall. Damit vermittelt das Buch DDR-Geschichte aus der unmittelbaren Sicht eines westdeutschen Journalisten. Es sei nicht seine Aufgabe, große, einmalige Sensationen zu vermelden, sondern über das Alltägliche zu berichten – das war der Leitgedanke, den man ihn mit auf den Weg nach Ost-Berlin gegeben hatte. Diesem Prinzip blieb er treu, und so sind seine besten Geschichten entstanden.

Wer die DDR nicht mehr bewusst erlebt hat, kann sich hier ein Bild machen, das durch seine Nähe zum Geschehen überzeugt. Wer sie kannte, die DDR, wird rückblickend sagen: ja, so war es.


Christiane Baumann:
Manfred "Ibrahim" Böhme - Das Prinzip Verrat

Lukas Verlag, Berlin 2015, 191 Seiten mit 85 Abbildungen, gebunden; Preis 19,80 Euro; ISBN 978-3-86732-208-9

Als im Frühjahr 1990 erstmals freie und geheime Wahlen in der DDR anstanden, hatte Ibrahim Böhme die Chance seines Lebens. Er hätte der erste legitime Ministerpräsident der DDR werden können. Doch alles kam anders, und sehr bald holte ihn seine Vergangenheit ein.
In dem sehr sachlich und emotionslos gehaltenen Text von Christiane Baumann wird Böhme als einer der schlimmsten Verräter seiner Zeit vorgestellt. Wer war dieser Mann, der vielen als Hoffnungsträger gegolten hatte?
Die Autorin verfolgt den Lebensweg von Manfred „Ibrahim“ Böhme von frühester Kindheit an – den zweiten Vornamen hat er selbst gewählt, um eine jüdische Herkunft vorzutäuschen. Bereits in seinen jungen Jahren zeigen sich Ansätze, aus denen sein späteres Verhalten erklärbar wird. So ein Vorgang aus dem Lehrlingswohnheim: Böhme verfasste einen anonymen Hetzbrief gegen sich selbst und heftete ihn im Gemeinschaftsraum an seinen persönlichen Schrank. Die Absicht war, die Heimleitung auf die Anwesenheit von Klassenfeinden hinzuweisen. Hinter der ganzen Aktion stand nichts anderes, als auf sich aufmerksam zu machen. Er denunzierte sich quasi selbst, um aufzufallen. Ähnliches wiederholte sich in seinem späteren Leben, das zur Achterbahn wurde. Er spielt den großen Wichtigmann – wird degradiert und bestraft – wird rehabilitiert – steigt wieder auf und stürzt erneut ab… So verläuft sein ganzes Leben. Damit wurde er nicht nur zum Spielball der Partei, die ihn am Gängelband hatte, sondern auch zum willfährigen Werkzeug der Stasi, der er sich bedingungslos unterwarf.
Mindestens seit seinem 25.Lebensjahr, 1969, lieferte er seine Berichte, die teilweise ins Fantastische gehen. Er übertrieb darin maßlos, um seine eigene Bedeutung zu erhöhen. In den Stasi-Akten befinden sich seine Berichte über Reiner Kunze, zu dem er als Kreissekretär des Kulturbunds in Greiz scheinbar freundschaftliche Kontakte unterhielt und den er als Schriftsteller förderte und gleichzeitig denunzierte.
Später in den 80er Jahren fand er in Ost-Berlin Zugang zu den Friedens- und Menschenrechtsgruppen um Ulrike und Gerhard Poppe sowie Markus Meckel und gewann durch seine aktive Mitarbeit deren Vertrauen. Aber umgehend verriet er diejenigen, die ihm als gleichgesinnten Freund vertrauten. Die alternativ-kritischen Kreise, die er heimlich bespitzelte, solidarisierten sich mit ihm als er die Rolle des Stasi-Opfers spielte. Im Gegenzug geriet er bei der Stasi in den Verdacht, in Wirklichkeit zum Kreis der Dissidenten zu gehören und die Stasi zu betrügen.
Als im Herbst 1989 die SDP als sozialdemokratische Partei in der DDR gegründet wurde, gehörte Böhme mindestens zu dem erweiterten Kreis und berichtete umgehend der Stasi über Personen und Abläufe. Erneut führte ihn die Achterbahn nach oben: Mit Geschick gelangte er bald in die vorderste Reihe der neuen Partei und wurde im Frühjahr 1990 deren Spitzenkandidat. Niemand in Ost und West zweifelte an seiner Integrität. Spitzenpolitiker der SPD sahen in ihm den Mann der Zukunft. Doch nach der verlorenen Wahl  führte der Weg wieder abwärts. Sein intriganter Verrat an Reiner Kunze wurde ihm zum Verhängnis, als der bereits 1991 seine Stasi-Akte einsehen konnte. Doch Böhme leugnete alles bis sein Leben 1999 im Alkohol unterging.

Christiane Baumann rekonstruiert diesen wohl einmaligen Lebensweg eines Denunzianten, der einem Hochstapler und Heiratsschwindler ähnelt, mit großer Zurückhaltung. Fern von Vermutungen lässt sie nur Aktenmaterial und Zeugenaussagen gelten. Eine Täterakte von Ibrahim Böhme ist bei der BStU nicht vorhanden, aber die Vielzahl der Opferakten liefert hinreichend Material für ein geschlossenes Lebensbild eines historischen Verräters. Man liest den Text mit Spannung und Abscheu aber zuweilen auch mit einem Anflug von Mitleid. Auch dieses Buch ist ein Teil der DDR-Geschichte. Damit hat sich die Autorin verdient gemacht.

Ivan Čistjakov
Sibirien, Sibirien  -  Tagebuch eines Lageraufsehers
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Irina Scherbakowa.
Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2014; gebunden, 288 Seiten, mehrere Abbildungen und Handzeichnungen aus dem Lager.
Preis 24,90 Euro;   ISBN  978-3-88221-092-7

Im Gegensatz zu den Berichten von Gefangenen gibt es kaum Aufzeichnungen von den Aufsehern in den sowjetischen Lagern. Vielleicht ist das Tagebuch von Ivan Čistjakov (übertragene Schreibweise: Tschistjakow) sogar die einzige Quelle von "diesseits" des Stacheldrahtes. Über den Autor weiß man nicht viel. Er zeigt sich als einer der durchschnittlichen Mitläufer der sowjetischen Repressionsmaschinerie, der zunächst auf der Seite der Machthaber, doch sehr bald auf der Seite der Entrechteten einzuordnen ist.
Im Herbst 1935 landete Čistjakov unfreiwillig in Swobodny, einem vergessenen Ort im Verwaltungsgebiet Amur, im Fernen Osten der UdSSR. Nach seiner Einberufung in die Rote Armee wurde er den Truppen des Innenministeriums zugeteilt, die für die Bewachung der sowjetischen Arbeitslager zuständig waren.

Mit dem 9. Oktober 1935 beginnen seine Tagebucheinträge. Dreck, nur Dreck – unfreundlich, gruselig, bedrückend und freudlos, so beschreibt er seine ersten Eindrücke bei der Ankunft in Swobodny, der Stadt an der von den Häftlingen zu errichtenden Baikal-Amur-Magistrale. Nach 30 Kilometern durch "Matsch überall" erreicht er seine Einheit, bei der er als Kommandant der Lagerwache dienen soll. Auch hier trifft er auf erschreckende Zustände. Die Truppe besteht aus einem völlig undisziplinierten und in erbärmliche Lumpen gehüllten Haufen von Rotarmisten, die eigentlich gar keine sind. Einige haben lediglich einen Monatskurs absolviert und da das Magazin nicht über ausreichend Uniformen verfügt, bleiben ihnen nur die Lumpen des Alltags. Ihnen ist er jetzt vorgesetzt. Aufklärung von Fluchten, Schlägereien, Morde, Hunger, Grausamkeiten, Verrat, Bestechung und Denunziation bestimmen seinen Tagesablauf. Bereits nach wenigen Tagen fragt er sich: "Bin ich wirklich dazu geboren, im BAMLag (Baikal-Amur-Magistrale-Lager) zu dienen?" Er ist ein Rädchen in einem schrecklichen Getriebe, aus dem es kein Entrinnen gibt. Es kommt der Herbst und aus dem Lehm wird Morast, dennoch muss der tägliche Fußmarsch zur Arbeit am Gleisbett bewältigt werden. Das lässt die Moral nochmals sinken. Doch der Winter mit seinen Temperaturen zwischen 40 und 50 Grad Kälte lässt nicht lange auf sich warten. Auch in den Baracken der Mannschaften herrscht Tag und Nacht Eiseskälte. Die Gefangenen reißen die am Tage verlegten Gleise wieder auf und verheizen die Schwellen, weil es kein Brennholz gibt. Aus all seinen Tagebuchnotizen ist zu entnehmen, dass er die Absurdität seines Tuns und noch mehr, die Sinnlosigkeit des gesamten Systems längst erkannt hat und daran schier verzweifelt. Er ist nicht allein mit dieser Haltung, wie man aus einem Eintrag erfährt: Der Politoffizier fordert, dass er die Wachsoldaten, die ihre Entlassung eingereicht haben, mit aller Kraft zurückhalten muss. Doch die antworten darauf: "Verurteilt uns, aber dienen werden wir nicht mehr." Nach etwas mehr als einem Jahr brechen die Tagebuchaufzeichnungen mit dem Datum vom 17. Oktober 1936 ab.


Über den Autor:

Alles, was man über Ivan Čistjakov weiß, ist nur aus seinen Tagebüchern zu entnehmen. Vermutlich war er im genannten Zeitraum etwa 30 Jahre alt und hat bis zu seiner Einberufung in Moskau gelebt. Über seinen Beruf ist nichts zu erfahren. Offensichtlich war er künstlerisch begabt, denn zwischen seinen Texten finden sich immer wieder feine Handzeichnungen mit Motiven aus seiner direkten Umgebung, auf denen oft auch die Eisenbahngleise einbezogen sind. Eine Familie hatte er wahrscheinlich nicht. Vermutlich ist er im Zuge einer "politischen Säuberung" aus der KPdSU ausgeschlossen worden, denn er lässt durchblicken, dass man ihn aus diesem Grund an die Baikal-Amur-Magistrale geschickt hat. Seine kritische Einstellung, die sich wie ein roter Faden durch das Tagebuch zieht, führte schließlich dazu, dass er 1937 degradiert wurde oder sogar selbst ein GULag-Häftling wurde. Dafür gibt es eine wichtige Quelle. Dem Tagebuch war eine Fotografie beigefügt mit der rückseitigen Notiz: Čistjakov, Ivan Petrovič, 1937/1938 repressiert. Fiel 1941 an der Front im Gebiet von Tula.
Das war das kurze Leben des Ivan Čistjakov, der vergessen wäre, wenn nicht - wie durch ein Wunder - seine Tagebücher erhalten geblieben wären. Unter den nachgelassenen Papieren einer entfernten Verwandten wurden die zwei Hefte mit den Aufzeichnungen gefunden, die sich heute im Archiv von Memoriale in Moskau befinden.

Florian Detjens
Am Abgrund der Bedeutungslosigkeit?
Die Universität Rostock im Nationalsozialismus

Verlag be.bra wissenschaft, Berlin-Brandenburg 2020, 40 Seiten, mehrere Abbildungen, Paperback. Umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis.
Herausgegeben von Stefan Creuzberger und Fred Mrotzek in der Schriftenreihe der Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland.
Preis 32,- Euro; ISBN 978-3-95410-257-0


Mit dieser umfangreichen Arbeit, die aus der Dissertation des Autors hervorgegangen ist, liegt nun ein grundlegendes Buch über die Universität Rostock während der Zeit des Nationalsozialismus vor. Florian Detjens zeigt darin schonungslos, wie die Universität nahezu ohne jeden Widerspruch zum willigen Opfer wird – sie bietet sich regelrecht an. Mit einem ausführlichen Einblick in die Vorgeschichte, in das 19. und in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Weimarer Zeit, wird diese Entwicklung deutlich gemacht. Umgeben von den durch Preußen geförderten Universitäten Kiel und Greifswald und der benachbarten großen Universität Hamburg kam Rostock nur eine unbedeutende Randlage zu. Die Universität war in die wissenschaftliche Bedeutungslosigkeit gesunken, und es drohte die völlige Schließung. Als dann im Sommer 1932 die NSDAP bei den mecklenburgischen Landtagswahlen die absolute Mehrheit errang, wollte sie sehr schnell auch die Universität für eine nationalsozialistische Hochschulpolitik gewinnen. Darin glaubte die Universität eine Chance für ihre Zukunftssicherung zu erkennen und ihr Renommee zu heben. Dafür zahlte sie einen sehr hohen Preis: die Aufgabe der Freiheit von Forschung und Lehre. Willfährig unterwarf man sich den neuen Machthabern. Dabei übernahmen die Studenten eine führende, unrühmliche Rolle. Bereits während der Zeit der Weimarer Republik war die Rostocker Studentenschaft in eine extrem nationalistische Position geraten, die sie nun zur Avantgarde werden ließ. Sie bedrohte ihre akademischen Lehrer, die sich nicht anpassen wollten. An den in den Selbstmord getriebenen Zahnmediziner jüdischen Glaubens Prof. Hans Moral wird hier erinnert.
In den folgenden Kapiteln werden die Veränderungen der Lehr- und Forschungsinhalte eingehend dargestellt. Wehrwissenschaften und nationalsozialistische Raumplanung gewinnen an Bedeutung. Ein neues Zentrum der Luftfahrtforschung entsteht in Verbindung zu den benachbarten Heinkel-Werken. Schließlich beteiligt sich die Universität an der Geheimforschung für das Heereswaffenamt. Eine „Führer-Universität“ war entstanden.
In seiner Konsequenz schließt Florian Detjens, dass die Universität Rostock nur wenige persönliche Opfer zu beklagen hat und zum großen Teil aus Angepassten und Profiteuren bestanden hat, die bereitwillig und wissentlich die Diktatur mitgetragen, sogar gefördert haben.
Das Buch wird einen festen Platz in der Aufarbeitung der jüngeren Geschichte der Universität Rostock haben. Eine vergleichbare Arbeit wünscht man sich für die Folgezeit, als die Universität erneut von einer Diktatur vereinnahmt wurde und wiederum wenig dagegen setzte.


Hans Magnus Enzensberger:
Hammerstein oder Der Eigensinn - Eine deutsche Geschichte
Suhrkamp Verlag; Frankfurt am Main 2008; 375 Seiten, mehrere Fotos, Leinen; 22,90 Euro; ISBN

Kurt von Hammerstein-Equord, geboren 1878 in Hinrichshagen in Mecklenburg-Strelitz, war sein Leben lang Soldat und erreichte die höchsten Ränge. Als Chef der Heeresleitung stand er ab 1930 an der Spitze der Reichswehr. Mit allen Mitteln versuchte er, einen Reichskanzler Adolf Hitler zu verhindern. Ende 1933 nahm er resigniert seinen Abschied.
Enzensberger füllt diese Biographie mit Leben und macht daraus keine Heldengeschichte. Er erhebt auch keinen wissenschaftlichen Anspruch -(„Wer es genauer wissen will, mag sich an das Literaturverzeichnis halten.“) – es ist ein Gefüge aus Wahrheit und Dichtung. Wahrheit durch jahrelange Recherchen in Archiven in Berlin, München, Moskau und Toronto, wobei sichere Quellen zutage gefördert wurden. Dort, wo Lücken blieben, musste die Phantasie helfen. Mit dem literarischen Kunstgriff der „Totengespräche“ werden mögliche Antworten gefunden. E. stellt Fragen an längst verstorbene Zeitgenossen und auch an den Protagonisten selbst. Die Antworten sind sybillinisch mehrdeutig. Doch aus der Vielfalt ergibt sich häufig ein konkretes Bild. Da erscheint vier Tage nach der Machtergreifung Hitler in der Dienstwohnung von Hammerstein im Bendlerblock in Berlin und erläutert seine Kriegspläne mit erstaunlichen Einzelheiten. Nach kürzester Zeit ist Moskau über jedes Detail informiert. Das Faktum steht fest, man kann es in Joachim Fests Hitler-Biographie nachlesen, wie aber war der Weg nach Moskau? Wieder sucht Enzensberger das Totengespräch für das nicht Belegbare. Eine wichtige Rolle könnten die Hammerstein-Töchter gespielt haben, die aktiv am kommunistischen Widerstand beteiligt waren. Es sind starke Frauen, die dem Buch eine besondere Spannung verleihen. „Meine Kinder sind freie Republikaner,“ so Hammerstein über die eigenwilligen Beziehungen der Töchter. Der Weg der Söhne ist ähnlich, sie zählen zum Kreis der Attentäter des 20. Juli. Deutlich werden auch die Verbindungen zwischen der Reichswehr und der Roten Armee. Gegenseitige Manöverbesuche sind die Regel. Enge Beziehungen von Hammerstein zu sowjetischen Generalen, zu Tuchatschewski und Schukow und auch zu Woroschilow, der zu der Zeit Volkskommissar für Verteidigung war. Aus all dem entwickelt Enzensberger interessante Zusammenhänge. Er findet in der Geschichte der Familie Hammerstein alle Motive und Widersprüche der Zeit, von Hitlers Griff nach der totalen Macht bis zum deutschen Taumel zwischen Ost und West, vom Untergang der Weimarer Republik bis zum Scheitern des Widerstandes und von der Anziehungskraft der kommunistischen Utopie bis zum Ende des Kalten Krieges.

Orlando Figes:
Die Flüsterer - Leben in Stalins Russland
Berlin Verlag, 2008; 1.036 Seiten, mehrere historische Fotos, gebunden; mit etwa 100 Seiten Anhang mit Nachwort und Anmerkungen sowie einem Quellenverzeichnis, in dem alle Interviewpartner genannt sind, und einer umfangreichen Bibliographie mit etwa 500
Literaturhinweisen; Übersetzung aus dem Englischen; 34 Euro; ISBN 978-3-8270-0745-2

Die russische Sprache kennt zwei Worte für Flüsterer: Eins für diejenigen, die aus Furcht, belauscht zu werden, nur leise sprechen, und ein anderes für die Zuflüsterer, also die den Behörden, den Mächtigen etwas über Nachbarn, Freunde oder sonst wen in böser Absicht mitteilen wollen. Während der Stalinjahre bestand die gesamte Sowjetgesellschaft aus Flüsterern. Die Nachwirkungen sind bis heute zu spüren.
Bis vor kurzem galt das Hauptinteresse der Stalinismusforschung der Auswirkung auf die Politik, auf die eigene kommunistische Ideologie, auf Staat und Gesellschaft, also auf die öffentliche Sphäre. Orlando Figes, englischer Historiker, Jahrgang 1959, betrachtet nun erstmals die Auswirkungen des stalinistischen Regimes auf das Privat- und Familienleben der Menschen. Misstrauen, Angst, Verfolgung, Anpassung, Verrat, Kompromisse, Selbstverleugnung gehörten zum Alltag in jeder Familie. Für dieses überdimensionale Vorhaben boten die staatlichen Archive praktisch nichts an Quellenmaterial. Alle Kenntnisse wurden nahezu ausnahmslos aus persönlichen Gesprächen gewonnen. In mehreren hundert Interviews zwischen St. Petersburg und Tiflis wurden besonders ältere Menschen befragt. Dabei kamen dann auch aus geheimen Schubläden oder unter Matratzen versteckt persönliche Papiere, Briefe, Fotos und sogar auch Tagebücher hervor, deren Inhalt durch die persönlichen Aussagen der Befragten erweitert wurde. Aus diesem breiten Spektrum wird deutlich, welche tiefgreifende Wirkung das stalinistische System auf das Privatleben seiner Untertanen geltend gemacht hat. Nur wenige Familien blieben vom Terror verschont. Nach vorsichtigen Schätzungen waren ungefähr fünfundzwanzig Millionen zwischen 1928, als Stalin die Parteiführung übernahm, und 1953, als der Diktator starb, schlimmsten Repressionen ausgesetzt. Sie wurden Opfer von Erschießungskommandos, Arbeitssklaven im GULag, verbannte „Kulaken“. Doch auch nach Stalins Tod wirkte das System weiter: Die Familien der ehemaligen GULag-Häftlinge waren zerstört; die Menschen zu tiefst traumatisiert; die Nachkommen der Opfer bekamen über Jahrzehnte die Vorwürfe ihrer Herkunft zu spüren. Die Angst blieb. Und die Täter – GULag-Verwalter, Aufseher und Henker – lebten ihr normales Leben ohne Schuldgefühle weiter.
Orlando Figes hat anhand von Einzelschicksalen einen tiefen Einblick in eine von ständiger Bedrohung verfinsterte Gesellschaft geliefert, in der Wahrheit und Wahn, Schuld und Unschuld auf fatale Weise miteinander verquickt waren. Ein herausragendes, bedeutendes Buch von dem gewiss einiges zu erwarten ist.

Karl Wilhelm Fricke und Silke Klewin:
Bautzen II - Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle 1956 - 1989
Band 8 der Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Sandstein Verlag, Dresden 2007, 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, 320 Seiten, viele Abbildungen und Textdokumente, broschiert; Preis 15 Euro, ISBN 978-3-940319-24-1

Bautzen II war nicht nur eins der vielen Zuchthäuser der DDR, es war ganz speziell ein Hochsicherheitsgefängnis für Inhaftierte, „die besonders abgesichert, unter intensiver Kontrolle gehalten oder weiter operativ bearbeitet werden müssen“. Bautzen II war anders als die anderen Schreckensstätten der SBZ/DDR. Es war nicht die Bedrohung durch Tbc wie im „Gelben Elend“ von Bautzen I oder durch Hunger oder geistige Abstinenz wie in Brandenburg-Görden, Waldheim, Bützow-Dreibergen usw. Aber weniger schrecklich war es nicht. Das Grauen hatte nur eine andere, scheinbar korrektere Gestalt angenommen. So offenbart sich auch das gesamte Innenleben dieser Einrichtung als menschenverachtend und schließlich inhuman. Das Buch macht das deutlich.
Die Autoren sind Kenner – als ehemaliger politischer Häftling bzw. als wissenschaftliche Leiterin der Gedenkstätte – dieser intern als „Sonderobjekt für Staatsfeinde“ bezeichneten Einrichtung des MfS-Strafvollzugs. Neue Kapitel und neue Abbildungen gestatten einen noch besseren Einblick in die Haftanstalt und in das Leben der Häftlinge. Erwähnenswert ist auch die Erweiterung des Biografieteils, in dem noch mehr Opfer in Einzelschicksalen vorgestellt werden. Es sind Prominente wie Walter Janka, Gustav Just und Wolfgang Harich oder Georg Dertinger aber auch Erich Loest, der hier sieben Jahre verbracht hat, die hier neben vielen Unbekannten porträtiert werden. Aber auch diejenigen, die vorher sich in der Anonymität zu verbergen bemühten, die Anstaltsleiter und Offiziere von Bautzen II werden mit Namen und Bild öffentlich gemacht. Sie werden es schwerer haben, jetzt ihre Vergangenheit zu schönen.
Erich Loest schreibt: Die Autoren dieses Bandes haben sich einer wichtigen Aufgabe gestellt. Die Last Bautzen II wiegt schwer. Klarheit ist nötig. Eine Dokumentation ist entstanden, Baustein im Haus unserer Geschichtsschreiberei. Lücken wurden geschlossen, der Opfer gedacht. Legenden werden es nun schwerer haben.

Carsten Gansel und Joachim Jacob (Hrsg.): Erich Loest und sein Werk – Geschichte, die noch qualmt
Steidl Verlag, Göttingen 2011, Leinen, 336 Seiten, 18 Euro, ISBN  978-3-86930-180-8

Drei Autoren aus drei Generationen - Erich Loest, Monika Maron und Uwe Tellkamp - erhielten im Sommer 2009 im Weimarer Nationaltheater, wo 1919 die erste deutsche Republik gegründet wurde, für ihre literarische Bearbeitung der DDR-Vergangenheit von der Deutschen Nationalstiftung den Nationalpreis 2009.
Nur wenige Monate später verlieh der Fachbereich Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen die Ehrendoktorwürde an Erich Loest. Das war die dritte Ehrenpromotion für den so Geehrten.
Anlässlich dieser Verleihung veranstaltete die Universität ein dreitägiges Loest-Kolloquium mit 17 Vorträgen. Diese Vorträge von renommierten Literaturwissenschaftlern und Historikern aus dem In- und Ausland sind nun von den Initiatoren Prof. Dr. Carsten Gansel und Prof. Dr. Joachim Jacob im Steidl-Verlag herausgegeben.
Jeder der Autoren befasst sich mit einem besonderen Aspekt im Gesamtwerk von Erich Loest. So wird erstmals das ganze Panorama seines Schaffens in einen Zusammenhang gebracht. Dabei ergeben sich sehr interessante Perspektiven, die das literarische und gesellschaftspolitische Profil von Erich Loests Werk durchleuchten und weitreichende Aufschlüsse ermöglichen. Wie bei kaum einem anderen Schriftsteller fließen Biographie und Text ineinander. Von seinem ersten bis zum jüngsten Buch erzählt Loest eigentlich seine Lebensgeschichte und die ist auch die Geschichte seiner noch qualmenden Zeit.
Carsten Gansel schließt seine Laudatio mit dem Gedanken: „Wer Erich Loest gelesen hat, der eignet sich weder zum Denunzianten noch zum coolen Machtmenschen. […] Mit seiner persönlichen Biographie steht er dafür ein, dass Literatur nicht korrumpierbar ist.“
Eine vollständige Bibliographie beschließt diesen sehr zu empfehlenden Band.

Joachim Gauck:
Winter im Sommer - Frühling im Herbst
Siedler Verlag, München 2009; 349 Seiten, mit mehreren Abbildungen, 22,95 Euro; ISBN 978-3-88680-935-6

Schriftsteller, Historiker und Betroffene haben in großer Zahl über die Jahre der SED-Diktatur und deren Ende geschrieben. Dabei ist ein weitgehend geschlossenes Bild dieser Zeit entstanden. Dennoch würde etwas fehlen, wenn jetzt nicht dieses Buch erschienen wäre.
Gauck erinnert sich an seine Kindheit in Mecklenburg und seine frühe oppositionelle Haltung, die mit der willkürlichen Verhaftung des Vaters durch die sowjetische Besatzungsmacht ausgelöst wurde und ihn für das Leben geformt hat. Sein Weg zum Theologiestudium und zum evangelischen Pastor war nicht durch das Elternhaus geprägt, sondern führte über die Junge Gemeinde. Das war damals nicht ungewöhnlich, denn viele junge Menschen entzogen sich so der Staatsräson. Gauck beschreibt aber auch den ganz gewöhnlichen Alltag im Leben in der DDR, vom kleinen Glück der kleinen Familie. Dabei bleibt er realistisch und gerät nie in die Versuchung der nostalgischen Rückschau. Es gelang ihm in einem betonierten Ödland, in einem Rostocker Plattenbaugebiet, eine evangelische Gemeinde aufzubauen. Die Menschen vertrauten ihm. Sein Weg stand fest und führte ihn konsequent ins Zentrum der Oppositionsbewegung. 5000 Menschen füllten am 19. Oktober 1989 „seine“ Rostocker Marienkirche und zogen mit ihren Forderungen durch die Stadt. Über das Neue Forum gelangte er im März 1990 in die Volkskammer und übernahm den Ausschuss, der für die Auflösung der Stasi eingesetzt wurde. So begann ein neuer Lebensabschnitt, der des Politikers Joachim Gauck. Die dann folgenden Kapitel des Bundesbeauftragten geben einen nie gekannten Einblick in die scheinbare Sisyphos-Arbeit der „Gauck-Behörde“. Schon diese Schilderungen sind die gesamte Lektüre wert!
Sein Schlusskapitel überschreibt er mit „Freiheit, die ich meine“. Darin wird der Wert der Freiheit diskutiert, aber auch der für viele schwierige Übergang von der erzwungenen Ohnmacht zu einem selbstbestimmten Leben.

Katja Gloger
Putins Welt - Das neue Russland, die Ukraine und der Westen
Berlin Verlag, Berlin 2015, 352 Seiten, mehrere Abbildungen, broschiert, mit einer themenbezogenen Chronologie von 1952 bis Juli 2015 und sehr ausführlichem Quellenverzeichnis; 18 Euro, ISBN 978-3-8270-1296-8

Die Autorin hat viele Jahre als Stern-Korrespondentin in Moskau gelebt und seit Anfang der neunziger Jahre alle Veränderungen vor Ort beobachtet. Über lange Zeit hat sie Wladimir Putin begleitet. Das Vorwort ihres beachtenswerten Buches schließt sie mit den Worten: „… dieses Buch [soll] ein Beitrag zur kritischen Analyse und zur gebotenen rhetorischen Abrüstung sein …“ Ganz in diesem Sinn beschreibt sie Episoden und Lebensabschnitte ihrer Protagonisten und erklärt daraus deren Handeln. Um „das System Putin“ verständlich zu machen, wird die Entwicklung Putins seit seiner Jugend betrachtet: Wie der junge Putin mit äußerster Willenskraft zielstrebig seinen Weg sucht, wie er als KGB-Mitarbeiter in der DDR seine Aktivitäten entwickelt und aus diesem Kreis sein persönliches Netzwerk aufbaut, und wie er sich in der Zeit der radikalen Veränderungen der Sowjetunion arrangiert. Der Aufstieg aus dem zerfallenden Machtpotentials Jelzins war die logische Folge. Ein Jahr nach seiner Wahl sprach Putin als erster russischer Präsident im Deutschen Bundestag. Er sprach deutsch. Es ging um die gemeinsame Zukunft in Europa. Das führte zu Fehleinschätzungen. Spätestens mit der Annexion der Krim wurde alles anders. Mit sicherem Instinkt traf Putin jetzt die Seele des russischen Volkes. Man wollte nicht mehr Verlierer des Kalten Krieges sein. In der Sowjetära wurde mantrahaft mit dem Lied von der siegreichen Nation im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen den eigenen Mangel das Bewusstsein der Überlegenheit im Volk gepflegt. Doch mit dem Ende der Sowjetunion und endgültig mit dem Putsch von Boris Jelzin kam die Massenverelendung der neunziger Jahre und der moralische Absturz. Doch jetzt hatte Putin mit der Krim-Annexion der Nation eine neue Identität gegeben. „Das System Putin“ war aufgegangen. All diese Vorgänge in ihren Ursachen mit sehr viel Feingefühl darzulegen, ist der Autorin bestens gelungen. Sie beschreibt Putins Mission, ohne dabei in Glorifizierungen oder Verteufelungen abzugleiten. Damit unterscheidet sich dieses Buch von der großen Zahl der Russland- und Putin-Bücher.

Hope M. Harrison
Ulbrichts Mauer - Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach

Propyläen Verlag, Berlin 2011, 506 Seiten, übersetzt aus dem Amerikanischen. Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel Driving the Soviet up the Wall bei Princeton University Press, Princeton, USA. 24,99 Euro, ISBN 978-3-549-07402-2

Mit diesem sehr gut recherchierten Buch relativiert die Autorin die Grundauffassung, dass während des Kalten Krieges alle großen Entscheidungen ausschließlich von den beiden Supermächten getroffen wurden. Sie versucht anhand neuester Erkenntnisse zu belegen, dass der Einfluss von Walter Ulbricht größer war, als jemals angenommen werden konnte.

Moskau versuchte mit seiner Berlinpolitik die Westmächte unter Druck zu setzen und so das Heft des Handelns in der Hand zu behalten, was in der Forderung nach einer Freien Stadt gipfelte. Ulbricht hingegen war auf die Sicherung seiner Grenzen bedacht. Beides war nicht zu vereinbaren. Obwohl die ostdeutsche Führung die Grenze nicht ohne Zustimmung der Sowjetunion schließen wollte und konnte, verfügte sie über wirksame Mittel, um den Sowjets die Zustimmung abzunötigen. Juli Kwizinski - zu der Zeit persönlicher Mitarbeiter des sowjetischen Botschafters in der DDR, und später Botschafter in Bonn - war im Frühjahr 1961 Zeuge eines Treffens des sowjetischen Botschafters Perwuchin mit Ulbricht, bei dem Ulbricht die folgende Botschaft an Chruschtschow übergab: - Wenn die gegenwärtige Situation der offenen Grenze weiter bestehen bleibt, ist der Zusammenbruch des Staates unvermeidlich. -

Etliche Wochen später reagierte Chruschtschow mit seiner Zustimmung zur Grenzschließung. Am 13. August 1961 war der permanente sowjetische Einwand, die Grenzschließung sei politisch unannehmbar und würde erhebliche technische Schwierigkeiten und politische Spannungen mit sich bringen, vergessen.

Im vorliegenden Buch werden drei entscheidende Perioden im Verhältnis zwischen der Sowjetunion und der DDR untersucht:
1. Die sechs Monate nach Stalins Tod im Frühjahr 1953.
2. Die beiden Jahre nach Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU.
3. Die drei Jahre der Berlinkrise 1958-1961.

In allen drei Zeitabschnitten versuchten die Sowjets vergeblich, Ulbricht von seiner starren Innen- und Außenpolitik abzubringen, um so den Flüchtlingsstrom einzudämmen, das Land zu stabilisieren und die Beziehungen zum Westen zu verbessern. In den ersten beiden Kapiteln - 1953: Die sowjetisch-ostdeutschen Beziehungen und die Machtkämpfe in Moskau und Ostberlin. 1956-1958: Sowjetische und ostdeutsche Debatten nach dem XX. Parteitag der KPdSU - wird gezeigt, wie Ulbricht mit allen möglichen Winkelzügen erfolgreich versuchte, Einfluss in Moskau zu gewinnen. Dazu nutzte er die politischen und strategischen Faktoren, die die DDR zum Hauptverbündeten der Sowjetunion machten. Im vierten Kapitel - 1960-1961: Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer - werden dann Ulbrichts aktive Anstrengungen, auf die Berlin-Politik Einfluss zu nehmen, untersucht. Die Autorin macht aber auch sehr deutlich, dass der Einfluss der DDR keineswegs der einzig bedeutsame auf die sowjetische Deutschlandpolitik bis 1961 gewesen ist. Die eigene Innenpolitik und das Verhältnis zu Peking hatten entscheidenden Einfluss, aber derjenige von Ostberlin war dennoch nach jetzigen Erkenntnissen wesentlich größer als jemals angenommen werden konnte. Walter Ulbricht war einer der Hauptakteure in diesem Spiel der Mächte.

All das ist das Ergebnis von intensivsten Nachforschungen der hoch engagierten Wissenschaftlerin in den seit Ende des Kalten Krieges zugänglich gewordenen Archiven des kommunistischen Regimes. Einige wichtige Unterlagen sind aber weiterhin unerreichbar. Vielleicht offenbaren die irgendwann die letzten Geheimnisse.

Enrico Heitzer Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU)  -
Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948-1959
Böhlau-Verlag, Köln 2015, 550 Seiten, mit anschließendem Bildteil, gebunden. 64,90 Euro, ISBN 978-3-412-22133-1

Hervorgegangen ist diese Studie aus der Dissertation des Autors an der Universität Halle-Wittenberg, und so erscheint der Inhalt als sachlich nüchterne, auf Akten gestützte Analyse einer Institution im damals isolierten West-Berlin, dem Brennpunkt des Kalten Krieges. Niemand wird bezweifeln, dass die KgU ein Kind des Kalten Krieges war, und der war in Berlin in den 1950er Jahren täglich präsent und zeigte sich überall, aber erfunden war er ganz gewiss nicht vom Westen. Seit dem Sommer 1948, dem Beginn der Blockade, musste der westliche Teil der Stadt sich ständig von den Sowjets bedroht fühlen. Das führte zu Reaktionen. Eine Beurteilung muss deshalb im zeitgeschichtlichen Zusammenhang erfolgen. Wer der von offizieller Stelle der DDR verwendeten Sichtweise immer noch folgt, findet in dem Buch von Enrico Heitzer seine Bestätigung: Die KgU war eine Spionage- und Terrororganisation im Kalten Krieg. Betont wird immer wieder, dass die KgU Antikommunismus zum Prinzip erhoben hatte. Doch das ist weder neu noch ehrenrührig und bedarf auch keiner 550 Seiten. Wenn eine solche Einschätzung jedoch weitgehend auf Stasi-Vernehmungsprotokollen und Gerichtsakten der DDR beruht, wird sie mehr als fragwürdig, sie ist unglaubwürdig. Heitzer räumt ein, dass für die KgU in der Anfangszeit humanitäre Aufgaben im Vordergrund standen, so die Suche nach Personen, die bei Nacht und Nebel von den Sowjets oder der damit beauftragten Volkspolizei abgeholt wurden und spurlos verschwunden waren. Heimkehrer aus dem GULag hinterlegten Namenslisten und gaben Auskünfte über die Zustände in den sibirischen Lagern und DDR-Zuchthäusern. So entstand eine umfangreiche Datei. Doch gleichzeitig bezeichnet Heitzer das als vordergründige Fassade. Die negative Seite sieht der Autor in den untergründigen Aktivitäten der KgU-Agenten innerhalb der DDR. Immer wieder wird das Netz von V-Leuten der KgU in der DDR angesprochen, das sich nach seiner Sicht aus rechtsgerichteten Kreisen, Nazis, sowie Kriminellen und Geschäftemachern zusammensetzte. Nicht nur Terrorakte zu verüben, sondern im Kriegsfall hinter der Front eine Guerillatruppe zu bilden, soll deren Aufgabe gewesen sein. Das ist Hysterie! Der Autor missachtet, dass es durchweg Oppositionelle waren, meist Jugendliche, die ihre widersprüchliche politische Meinung in der DDR nicht mehr artikulieren konnten und somit in den Widerstand getrieben wurden. Das waren allerdings nie Brandstifter und Brückensprenger, sondern Vertreter eines geistig-intellektuellen Widerstands. Die Zahl der hier erbrachten Opfer ist groß, doch bei Heitzer kaum erwähnt. Über die Gegenseite, die Infiltration von Stasi-Agenten in die KgU, ist in dem Buch nichts zu finden. Doch genau mit dieser Methode schaltete die DDR ihren schärfsten Gegner aus. Eine Unterscheidung von Freund und Feind war nicht mehr möglich. Wie viele der vermeintlichen Terrorakte in der DDR auf das Konto dieser Stasi-Agenten gehen, ist nicht zu klären. Die Methode war wirksam: Man inszenierte eine Tat und trieb den Täter in die Arme der Stasi. Der Propagandaerfolg war sicher. Heitzer macht andere Gründe für das Ende der KgU verantwortlich. Man hat deutlich mehr erwarten dürfen. Eine Wissenserweiterung liefert diese Studie nicht, den Altkadern wird sie gefallen, doch eine Empfehlung für historisch Interessierte kann nicht gegeben werden.

Georg Herbstritt
Entzweite Freunde  -  Rumänien, die Securitate und die DDR-Staatssicherheit 1950 bis 1989

Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) - Band 47. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, 582 Seiten mit 32 Abbildungen und 11 Tabellen, gebunden. Preis  40,- Euro; ISBN  987-3-525-35122-2

Man muss sich zurückerinnern:  Im Dezember 1989 war in Rumänien die Hölle los. Ein landesweiter Aufstand gegen das Ceausescu-Regime wurde mit brutaler Gewalt bekämpft. Weltweit erschienen die Berichte über die Gräueltaten der Securitate mit vielen Tausend Toten unter den Aufständischen. In dieser Situation verkündete die Staatssicherheit der DDR, dass sie sich von den Verbrechen gegen das rumänische Volk distanziert, den Opfern ihr Mitgefühl ausspricht und niemals Beziehungen zur Securitate unterhalten hat. (Neues Deutschland, 28.12.1989) 

Die Behauptung des MfS, niemals mit der Securitate zusammengearbeitet zu haben, entspricht nicht der Wahrheit. Sie ist den Ängsten der Stasi um ihr eigenes Schicksal entsprungen. Richtig ist: Ende der 1960er Jahre orientierte sich Rumänien immer mehr auf die kommunistische Führung in China unter Mao Tse-tung, die im erklärten Widerspruch zu Moskau stand. Rumänien wurde von der SED-Führung zum „feindlichen Bruderland“ erklärt. Das wirkte sich auf die bis dahin gepflegte Zusammenarbeit beider Geheimdienste aus.
Georg Herbstritt verfolgt diese Entwicklung von den 50er Jahren bis zum Ende 1989 und teilt sie in drei Phasen: Die erste betrifft die Zeit bis etwa 1964, in der eine intensive Kooperation zwischen der Stasi und der Securitate selbstverständlich war. Im ersten Kapitel des Buches, „Bruderorgane: die Zusammenarbeit zwischen Stasi und Securitate“, werden verschiedene Aktionen beider Geheimdienste während dieser Zeit geschildert. Das zweite Kapitel behandelt die zweite Phase und steht unter der Überschrift „Unterbrechung der Zusammenarbeit und Versuche der Wiederannäherung“. Darin werden Ursachen, Verlauf und Folgen der Distanzierung in der Zeit von 1964 bis 1973 untersucht. In der dritten Phase stehen sich beide Geheimdienste nahezu feindlich gegenüber. So richtete beispielsweise die Securitate eine Abteilung zur Abwehr von Aktivitäten der sozialistischen Geheimdienste ein. Gleichzeitig etablierte das MfS eine verdeckte Spionageresidenz in Bukarest. Diese Aspekte des Zusammenwirkens bzw. Gegeneinanderwirkens der „entzweiten Freunde“ werden in den folgenden Kapiteln untersucht.
Während im 3. Kapitel der Blick der Stasi auf die oppositionellen Gruppen in Rumänien gerichtet ist, wobei die Schriftsteller ein besonderes Interesse weckten, steht im 4. Kapitel der wirtschaftliche Niedergang in Rumänien im Mittelpunkt. Die rapide zunehmende Verarmung der Bevölkerung wurde vom MfS mit Sorge beobachtet, denn man fürchtete daraus resultierende politische Unruhen wie in Polen 1980.
Parallel zu den Aktivitäten des MfS in Rumänien gerieten auch die verschiedenen rumänischen Einrichtungen in der DDR und ebenso dort lebende rumänische Staatsangehörige oder Touristen ins Visier der Stasi. Häufig versuchten Rumänen über die DDR in den Westen zu flüchten, dabei spielten die Ostseehäfen eine wesentliche Rolle. All das wird in 5. Kapitel untersucht. Im letzten Kapitel wird dann noch auf die Westarbeit der Securitate eingegangen.
Mit dieser umfangreichen Arbeit wird nun die Beziehung zwischen den beiden Geheimdiensten öffentlich gemacht. Grundlage dazu waren die erst seit dem Jahr 2006 zugänglichen Securitate-Akten, deren Auswertung mit den Akten des MfS abgeglichen wurde und so zu einem geschlossenen Bild führte. Damit ist dem Autor eine grundlegende Publikation gelungen, deren Studium durch reichen Gewinn belohnt wird.

Jeffrey Herf
Unerklärte Kriege gegen Israel - Die DDR und die westdeutsche radikale Linke 1967 - 1989
Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 518 Seiten, gebunden. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Preis 39,- Euro; ISBN 978-3-8353-3484-7

„Gäbe es ein ungeschriebenes elftes Gebot der westdeutschen Geschichte nach dem Holocaust, so würde es lauten: Keine deutsche Regierung oder politische Gruppierung darf jemals Juden töten oder ihnen Schaden zufügen …“, mit diesem Grundsatz westdeutscher Nachkriegspolitik beginnt Jeffrey Herf, Professor für Geschichte des 20. Jahrhunderts an der University of Maryland, seinen Rückblick. Unter einer völlig entgegengesetzten Prämisse stand die politische Ausrichtung der DDR. Mit ihrer Gründung 1949 hatte sie das antisemitische Weltbild Stalins übernommen und damit den Staat Israel zu ihrem Feind erklärt.

Um das Zusammenwirken des SED-Regimes mit der westdeutschen radikalen Linken zu erfassen, hat der Autor die Akten des SED-Politbüros, des DDR-Außenministeriums und des DDR-Verteidigungsministeriums sowie der Staatssicherheit ausgewertet. Er konnte damit nachweisen, dass die DDR nicht nur propagandistisch gegen Israel vorgegangen war, sondern dessen Feinde – die PLO und einzelne arabischen Staaten - mit Waffen und militärischer Ausrüstung belieferte. Grundsätzlich unterstützte sie alle Staaten, die mit Israel verfeindet waren. So waren im Jom-Kippur-Krieg 1973 Kampfflugzeuge der DDR-Luftwaffe mit russischen Piloten auf syrischer Seite im Einsatz.

In Westdeutschland radikalisierten sich 1967 nach dem gewaltsamen Tod von Benno Ohnesorg Teile der Außerparlamentarischen Opposition, vornehmlich aus der studentischen Jugend. Man solidarisierte sich mit den revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt. So entstand die RAF, die das Feindbild der SED gegen Israel übernahm. Ulrike Meinhof, Ikone der Radikalen, feierte den Mordanschlag von palästinensischen Terroristen auf die israelischen Sportler während der Olympischen Spiele in München 1972 als großartige revolutionäre Tat. Unter absoluter Geheimhaltung unterstützte Ost-Berlin weitere Terroraktionen in der Bundesrepublik gegen jüdische Einrichtungen.

In seinen weit gefassten Untersuchungen liefert Jeffrey Herf neue Erkenntnisse über die Zusammenarbeit der westdeutschen radikalen Linken mit der DDR im Kampf „Vereint gegen Israel“. Insbesondere kann er überzeugend belegen, dass die DDR und andere Ostblockstaaten einen weit größeren Einfluss auf den Nahostkonflikt genommen haben als bisher angenommen.
Mit dieser seit Jahren überfälligen Arbeit hat der Autor Licht in ein sehr dunkles Kapitel der DDR-Geschichte gebracht und verdient damit hohe Anerkennung.

Rolf Hosfeld:
Was war die DDR? Die Geschichte eines anderen Deutschlands
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2008, 302 Seiten, gebunden, Preis 19,95 Euro, ISBN 978-3-462-03978-8

Eigentlich war die DDR ein unmögliches Projekt, eine politische Fiktion. Kaum war Stalin gestorben, erhielt sie ihren ersten Todesstoß. Der Rest waren Reparaturarbeiten, bis zum Schluss. So könnte die Konsequenz nach der Lektüre lauten.
Seit dem Zusammenbruch der SED-Diktatur ist die DDR-Geschichte unter allen denkbaren Aspekten beschrieben worden. Kein deutscher Geschichtsabschnitt ist so ausführlich in der Literatur behandelt wie die vierzig Jahre DDR-Existenz. In einer sehr differenzierten Sicht legt Rolf Hosfeld nun die erste kritisch erzählende Gesamtdarstellung vor. Dabei konzentriert er sich auf eindeutige Schwerpunkte innerhalb der DDR-Geschichte, ohne sich an eine systematische Chronologie zu halten. In seiner treffsicheren Beurteilung einzelner Situationen entsteht ein rascher Überblick über die Unzulänglichkeiten, Fehleinschätzungen und Wahnvorstellungen der Machthaber. „Glaubte die Führungsschicht der DDR an die Zukunft ihres Staates?“ lautet eine Kernfrage gegen Ende des Buches. Etliches lässt erhebliche Zweifel zu, andererseits hatte sie als Produkt des Kalten Krieges kaum eine andere Wahl.
Das Buch ist in seinem lockeren, eingängigen Stil sehr leicht zu lesen. Tiefgehende Informationen werden auf einfache Weise vermittelt, ohne dass auf vereinfachende Standards zurückgegriffen wird.

Siegfried Jahnke
Hinter der weißen Wand
Verlag Schmitt und Klaunig, Kiel 2011; 383 Seiten, 15 Euro, ISBN  978-3-88312-015-7

„Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an die 52 Monate zurückdenke…“, so beginnt Siegfried Jahnke mit dem Datum vom 30. Juni 1952 seine Aufzeichnungen. Die Oberschule in Grevesmühlen im nordwestlichen Mecklenburg hatte er vor dem Abitur verlassen, um sich auf dem Bauernhof seiner Eltern einzurichten. Die Landwirtschaft war sein Leben. Er liebte dieses Land, in dem er fest verwurzelt war. Dort holten sie ihn an jenem 30. Juni 1952 von der Feldarbeit. „… Ich nahm die Leine von der Schulter, legte sie über den Pflug, sah mich noch einmal um … und schickte mich an zu gehen.“ Das waren für Jahre seine letzten Schritte in der Freiheit, die eigentlich schon keine mehr war. Es folgten die üblichen, Nerven zerreißenden Stunden, Tage und Wochen der Stasi-Verhöre. Vorwürfe, Behauptungen, Drohungen, Schikanen, Folter – „Zuckerbrot und Peitsche“. Was aber wusste die Stasi wirklich? In West-Berlin war er gewesen, hatte mit Freunden Geflüchtete besucht, hatte auch Briefe mitgenommen. Gleich nach Kriegsende hatten sie als Jungen mit gefundenen Wehrmachtspistolen gespielt und sie dann vergraben. Aber mit Spionage hatte das wahrlich nichts zu tun. Nach Monaten – die quälenden Verhöre waren längst eingestellt und die Öde des Zellenalltags hatte sich breit gemacht – überreichte man ihm die Anklageschrift. Dort waren 13 Namen aufgeführt, Freunde und ehemalige Mitschüler, aber auch völlig unbekannte. „Die nächsten Sätze haben sich für immer in mein Gedächtnis eingegraben: Bei fast allen Angeklagten handelt es sich um ehemalige Schüler der Oberschule Grevesmühlen. Seit Jahren wurden an dieser Schule reaktionäre Strömungen bemerkt.“ Kriegs- und Boykotthetze – Artikel 6 der Verfassung der DDR, so stand es dort. Der Prozess verlief nach bekanntem Muster, und am zweiten Tag folgten die Urteile, die den Anträgen des Staatsanwaltes entsprachen und die wiederum entsprachen gewiss den höheren Weisungen. Bis zu zehn Jahre Zuchthaus wurden verteilt, Jahnke erhielt acht. Wofür eigentlich? Man hatte ihnen Verbindungen zu Agentenzentralen in West-Berlin vorgeworfen und diese dann zur Spionage aufgeblasen. – Dann folgten die Jahre im Zuchthaus Bützow-Dreibergen, das man in der DDR als eines der drei großen „B“ benannte: Bautzen – Brandenburg – Bützow. In diesem Abschnitt seiner Aufzeichnungen gelingt dem Autor die Beschreibung des eigentlich unbeschreiblichen, inhaltsleeren „Knastalltags“. In der Zellengemeinschaft schwanken die Gefühle zwischen Hoffnungslosigkeit und Euphorie. Jahnke wird zu einer Art Leitfigur, an der sich andere aufrichten können. Einzelne Episoden des täglichen Ablaufs schildert er in einer humorvollen Leichtigkeit, die aber dennoch voller Ernst sind. Nicht jeder Nichtbetroffene wird diese Art der Darstellung richtig zu deuten wissen. Zwischen diesen Schilderungen werden dann immer wieder die Rückerinnerungen an die Jahre davor eingeflochten: Das Leben in der Familie, die Schulzeit, der Bauernhof. So vergehen mehr als vier Jahre, eigentlich verlorene Jugendjahre, die Siegfried Jahnke jedoch nicht verloren gibt. Er verarbeitet sie zu einem inneren Gewinn. So ist ein Buch entstanden, wie es in dieser Eindringlichkeit wohl nur sehr wenige gibt.    Gewünscht hätte man dem Buch ein wenig mehr verlegerische Sorgfalt. Schon ein Titelblatt wäre wohl selbstverständlich gewesen. So aber bleibt die Form weit hinter dem Inhalt zurück. – Schade!

Alexander Jakowlew:
Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland
Berlin Verlag, Berlin, 2004, 363 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 3-8270-0547-7

Im Herbst 2005 ist Alexander Jakowlew gestorben. Der Evangelische Pressedienst gab dazu eine kurze Agenturmeldung heraus. Das war nicht viel mehr als eine Randnotiz, und damit erschöpfte sich auch bereits das öffentliche Interesse.
Wer war Jakowlew? In bäuerlichen Verhältnissen 1923 in Russland geboren, 1943 in die KPdSU eingetreten, von 1953 bis 1973 Mitglied des Zentralkomitees und dort zuständig für Ideologie und Propaganda. Also ein hoher sowjetischer Funktionär. Differenzen führten zur Amtsenthebung und Abschiebung als Botschafter nach Kanada. Gorbatschow holte ihn 1985 zurück und machte ihn zu seinem wichtigsten Berater in Fragen zu Glasnost und Perestroika. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde er Leiter der Staatlichen Kommission zur Rehabilitierung politisch Verfolgter. Dank der Jakowlew-Kommission wurden etwa vier Millionen Urteile der sowjetischen Terrorjustiz aufgehoben. Seine scharfsinnige und tief greifende Analyse des Stalin-Terrors hat Jakowlew in einem 2002 in englischer Sprache erschienenen Buch niedergelegt, das jetzt ins Deutsche übersetzt vorliegt.
Es gibt inzwischen viele kritische Auseinandersetzungen mit dem kommunistischen System. Aber keiner der Kritiker hat in dem Machtapparat eine derart hohe Stellung eingenommen – vielleicht Milovan Djilas in Jugoslawien (Die neue Klasse, München 1957) – und verfügt über ein nahezu unbegrenztes Insider-Wissen. Vergleichbar ist dieses Buch besten Falls mit dem Schwarzbuch des Kommunismus, das aber wesentlich breiter angelegt ist und deshalb nicht so detailliert und gründlich sein kann. Außerdem sind dessen Autoren niemals Funktionäre im inneren kommunistischen Machtbereich gewesen.
In diesem wichtigen Werk zur Vergangenheitsbewältigung gibt der Autor einen Überblick über die schlimmsten Gewalttaten der Sowjetgeschichte von Lenin bis zur Perestroika. Er räumt auf mit der Legende vom guten Lenin und dass der Terror erst mit Stalin einsetzt. „Das Sowjetsystem war von Anfang an verbrecherisch.“ Jede Behauptung wird massiv untermauert. Bevölkerungsgruppen, die am meisten zu leiden hatten, werden mit vielen Einzelschicksalen vorgestellt. So wird z. B. Nikolai Jeschow zitiert, der 1936 – 1938 an der Spitze des NKWD stand und Anweisungen zum „Umgang mit Kindern von Volksfeinden“ erteilte. In den Direktiven des Politbüros ist die Rede von „in Ungnade gefallenen Kindern“. Vierzehnjährige konnten zum Tode verurteilt werden.
Jakowlews Enthüllungen und Schilderungen der staatlichen Gräuel sind nur ein Aspekt des Buches. Wie sich seine persönlichen Überzeugungen wandelten und er zum Systemkritiker wurde, nachdem er jahrzehntelang das System mitgetragen hatte, ist eine weitere, interessante Komponente in diesem Band. Heute bezeichnet er die Oktoberrevolution von 1917 als einen konterrevolutionären Staatsstreich, der die Entwicklung vom Zarismus über eine konstitutionelle Monarchie zur demokratischen Republik mit Gewalt beendete. Jakowlews Abrechnung mit der „faschistisch-bolschewistischen Ideologie“ erfolgt mit einer noch nicht da gewesenen Härte und Schonungslosigkeit. Dieses Buch gehört zweifellos zu den wichtigsten Auseinandersetzungen mit der kommunistischen Diktatur im 20. Jahrhundert.

Joachim Jauer:
Urbi et Gorbi – Christen als Wegbereiter der Wende
Herder Verlag, Freiburg 2009. 344 Seiten, gebunden. Mit einer Zeittafel über entscheidende Daten seit 1975; 19,95 Euro, ISBN 978-3-451-32253-2

Joachim Jauer war ZDF-Korrespondent in der DDR, Moderator des ZDF-Magazins „Kennzeichen D“, Sonderkorrespondent in Mittel- und Osteuropa (1987-1990) und zuletzt Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios in Berlin.
So lebendig wie einst seine Fernsehsendungen waren, schreibt er über die Vorgänge im Ostblock, die 1989 die Welt grundlegend veränderten. Bei allem war er stets als Augenzeuge an den Brennpunkten des Geschehens und man merkt seinen Berichten sofort an, dass sie nicht zurückgezogen am Schreibtisch entstanden sind, sie sind erlebt. Er blickt aber auch zurück in die schlimmen Jahre der Diktatur, wobei der Ungarnaufstand 1956 und die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 betrachtet werden. Es sind Momentaufnahmen, die die Atmosphäre am Ort des Geschehens erfassen. Jauer hat all die Akteure dieser europäischen Revolution vor der Kamera gehabt und ihre Worte festgehalten. In dem zeitgleichen Auftreten von Papst Johannes Paul II. und Michail Gorbatschow sieht Jauer in Anlehnung an Stefan Zweig eine Sternstunde der Menschheit, durch die die fundamentalen Veränderungen des Jahres 1989 erst möglich wurden. In allen Abläufen, ob aus Budapest, Leipzig und Berlin sowie aus Prag oder Warschau und auch Bukarest, erkennt er die besondere Bedeutung der Christen als Wegbereiter der Wende. So ist Joachim Jauer ein Beitrag gelungen, der die gesamte Wende-Literatur hervorragend ergänzt. Durch den lockeren Stil wird dieses Buch zu einer leicht lesbaren Lektüre, die man gelesen haben sollte, denn sie reicht weit über die Vorgänge im eigenen Land hinaus.

Anne Kaminsky (Hrsg.):
Orte des Erinnerns
Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR.
Ch. Links Verlag, Berlin 2007, 2.Auflage, 560 Seiten, zahlreiche Abbildungen, broschiert, Preis 24,90 Euro; ISBN 978-3-86153-443-3

Die 2004 erstmals erschienene Zusammenstellung von Orten, die an die schreckliche Wirklichkeit der kommunistischen Diktatur erinnert, liegt jetzt in einer ergänzten und aktualisierten Ausgabe vor. Dabei sind die in der ersten Auflage fehlenden Eintragungen nachgeholt. So die vom VERS in Zusammenarbeit mit der Stadtvertretung der Stadt Güstrow und der Leitung des Güstrower John-Brinckman-Gymnasiums initiierte Gedenktafel für den ehemaligen Schüler des Gymnasiums und späteren Rostocker Studenten, Karl-Alfred Gedowsky, der im März 1952 in Moskau erschossen wurde. Neue Gedenkstätten wurden in Fortführung der Arbeit hinzugefügt.
Das Buch ist aber weit mehr als ein Führer durch die deutsche Erinnerungslandschaft. Zu allen aufgeführten Stätten werden die historischen Hintergründe ausführlich beschrieben und auf die weiterführende Literatur wird hingewiesen. Beachtenswert sind ebenfalls die angeschlossenen Kapitel. Unter „Grenzwege“ wird das Biotop beschrieben, das sich von der Ostsee bis nach Bayern im damaligen Grenzverlauf erstreckt. Es gibt Pläne zum Ausbau eines europäischen Verbunds über die 8500 km des ehemaligen Eisernen Vorhangs bis zum Schwarzen Meer. Überblicksbeiträge namhafter Autoren zu Opposition und Repression in der SBZ/DDR schließen sich an. Eine Auswahlbibliographie bildet den Schluss dieser wichtigen Arbeit.


Anna Kaminsky:
Frauen in der DDR

Ch. Links Verlag, Berlin 2016, 320 Seiten, 77 Abbildungen, gebunden; Preis  25,- Euro;    ISBN 978-3-86153-913-1

In einer breit angelegten Thematik, die von der „neuen Frau als sozialistische Persönlichkeit“ bis zu „Frauen für den Frieden“ reicht, schildert die Autorin, wie die DDR-Frauen zwischen der Staatsdoktrin und ihrem Alltag Höchstleistungen vollbringen mussten. Die Mangelwirtschaft mit ihren Versorgungsengpässen zwang zu zusätzlichen Belastungen bei der täglichen Versorgung der Familie.

Der Mythos von der emanzipierten, gleichberechtigten Frau in der DDR gehört schlichtweg zu den Legenden, welche die DDR über Jahrzehnte überlebt haben. Mit dieser Verklärung versucht die Autorin aufzuräumen. Dabei geht es ihr nicht um eine wissenschaftlich fundierte Analyse, sondern um Einblicke in den Alltag der Frauen. Der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit war so groß wie überall in der DDR. Wenn 1989 mehr als 90 Prozent der Frauen berufstätig waren, kann das nicht als Ausdruck einer umfassenden Emanzipation gewertet werden, sondern nur als Folge eines permanenten Arbeitskräftemangels. Was in der ersten DDR-Verfassung von 1949 noch als Recht auf Arbeit formuliert war, wurde in der 1968 verabschiedeten als Arbeitspflicht festgeschrieben. Nur-Hausfrauen wurden als Schmarotzerinnen diffamiert. Interessant ist, welche beruflichen Aufstiegschancen bestanden, und genau da zeigt sich der Mangel an Emanzipation: In den höheren Positionen der Wirtschaft sind zu allen Zeiten nur wenige Frauen anzutreffen. Gleiches gilt für den gesamten Wissenschaftsbereich und sogar für die Politik. Zu keiner Zeit konnte die DDR ihren propagandistisch verbreiteten Anspruch erfüllen, dass die Gleichberechtigung der Frauen in allen Bereichen erreicht worden sei. Anna Kaminsky macht das deutlich.

Anna Kaminsky (Hrsg.):
Museen und Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Diktaturen
Herausgeber: Anna Kaminsky im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Erarbeitet von Anna Kaminsky, Ruth Gleinig und Lena Ens
Sandstein Verlag, Dresden 2018, 472 Seiten, durchgehend mit Farbabbildungen, broschiert; Preis 29 Euro, ISBN  978-3-95498-390-2


In den 1970er und 1980er Jahren lebte etwa ein Drittel der Weltbevölkerung unter kommunistischen Regimen, deren Herrschaftsmethoden von der alltäglichen Einschüchterung bis zu Staatsterror und Justizmorden reichten. Daran erinnert dieses Buch und versucht den Opfern gerecht zu werden, und – um es vorweg zu nehmen – erfüllt diesen Anspruch im hohen Maße.

In einer über die europäischen Grenzen hinausgehenden Betrachtung werden die Gedenkstätten, Denkmäler und Museen beschrieben, die an die Verbrechen der kommunistischen Regime und deren Opfer erinnern. In alphabetischer Reihenfolge von Albanien bis Usbekistan sind diese Orte des Gedenkens in ausführlichen Texten beschrieben und sehr gut bebildert. Es sind nicht nur die Länder des ehemaligen Ostblocks in Mittel- und Südosteuropa berücksichtigt, sondern auch die ehemaligen Sowjetrepubliken, für die die Autoren die Stätten der Erinnerung beschreiben; es sind die Gedenkorte in Armenien und Georgien sowie in den baltischen Staaten, in Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und natürlich in Russland aufgeführt. Allein für Russland werden aus elf Städten solche Erinnerungsstätten vorgestellt. Auch außerhalb der ehemaligen Sowjetunion sind Denkmäler für die damaligen Opfer errichtet, so in Äthiopien, China (Hongkong), Kambodscha, Südkorea und der Mongolei. Selbst in Staaten, die niemals unter einer solchen Diktatur standen, in Australien, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Österreich, der Schweiz und den USA erinnern einzelne Denkmäler an die Opfer. Auf die jeweiligen historischen Hintergründe, derer man hier gedenkt, wird ausführlich eingegangen.

Ein nahezu weltweites Gedenken ist dem Erinnern an den Holodomor (ukrainisch: Tötung durch Hunger) gewidmet. Man erinnert an die von der Sowjetmacht zu verantwortenden mehreren Millionen Hungertote der Jahre 1932/33 in der Ukraine. Ähnlich weit verbreitet sind die Gedenkstätten an die Opfer des Massenmords von Katyn. Der Donskoje-Friedhof in Moskau hat für viele Deutsche eine tiefe Bedeutung. 972 Frauen und Männer, die in den Jahren von 1950 bis1953 in Deutschland von Sowjetischen Militärtribunale unschuldig zum Tode verurteilt und in Moskau hingerichtet wurden, sind hier neben 10.000 Ermordeten aus vielen Ländern in Massengräbern anonym verscharrt. Heute hat man ihnen eine würdige Gedenkstätte errichtet und in den ausliegenden Totenbüchern ihnen ihre Namen wiedergegeben.

In der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin gab es bereits seit Anfang der 1950er Jahre eine größere Zahl von Gedenkstätten für die Opfer des Stalinismus, des Grenzregimes und des 17. Juni 1953. Inzwischen erinnern mehr als 900 Gedenksteine und Museen in ganz Deutschland an die Verbrechen des Kommunismus. Drei davon - in Oranienburg, Bautzen und Berlin - sind hier vorgestellt.

Besonders erwähnenswert sind auch die ausführlichen Texte, die den Abschnitten für die einzelnen Länder vorangestellt sind, aus denen die politischen Hintergründe zu deren jüngerer Geschichte deutlich werden. Dadurch ergibt sich für den gesamten Inhalt ein wesentlich erhöhter Informationswert, der diese Publikation zu einem wichtigen Geschichtsbuch macht.


Den Autorinnen ist ein Buch gelungen, das schon durch sein Titelbild aufmerksam macht und in seiner hervorragenden Gestaltung keinerlei Wünsche offen lässt, aber erst recht durch die exakte und akribische Beschreibung einen besonderen Platz in der Aufarbeitungsliteratur verdient. Das ist einen besonderen Dank wert.

Wolf Karge
Stintenburg im Schaalsee
Hrsg: Die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Schwerin 2019. 80 Seiten, viele Abbildungen, umfangreiche Quellenangaben, broschiert.
Schutzgebühr: 6,- Euro; ISBN  978-3-933255-56-3

Die Stintenburg-Insel im Schaalsee ist eigentlich eine Naturidylle zwischen der größeren Insel Kampenwerder und dem mecklenburgischen Festland. Als „Insel der froheren Einsamkeit“ hat der Dichter Gottlieb Klopstock die Insel 1767 beschrieben. Aber 200 Jahre später wurde sie von der politischen Realität des Kalten Krieges erfasst.
Seit der Mitte des 18. Jh. war Stintenburg Herrensitz der Familie von Bernstorff, deren Ländereien sich über die beiden Inseln, Stintenburg und Kampenwerder, erstreckte. Der letzte Besitzer, Albrecht Graf von Bernstorff, Diplomat im Auswärtigen Amt, stand mit dem Kreisauer Kreis in Verbindung, wurde 1943 von den Nationalsozialisten verhaftet und im April 1945 ermordet.
Mit dem Kriegsende wurde die Insel für viele der aus Hinterpommern und Ostpreußen Geflüchteten zur vorläufigen Bleibe. Als dann die Zonengrenzen gezogen wurden, lag der Schaalsee genau in deren Verlauf und bereits Anfang der 1950er Jahre nahm die DDR-Grenzpolizei die Stintenburg-Insel in Besitz. Das ehemalige Schloss machte sie zu ihrer Ausbildungsstätte. Gleichzeitig begann im Zuge der „Aktion Ungeziefer“ die Zwangsaussiedlung von den Inseln Stintenburg und Kampenwerder. Die Inseln wurden zum Sperrgebiet. Aufgrund seiner besonderen Lage rückte Stintenburg dann sehr schnell ins Interesse des MfS. Zunächst waren es verdeckt arbeitende Stasi-Mitarbeiter innerhalb der NVA-Grenztruppen, doch bald lag die Entscheidungsgewalt völlig in den Händen des MfS. 1973 wurde Stintenburg zur Zentralschule für Grenzaufklärer des MfS umgewandelt. In Sonderlehrgängen erhielten ausgesuchte Angehörige der NVA-Grenztruppen eine Elite-Ausbildung zur „Truppenaufklärung“, einer nichts sagenden Bezeichnung, bei der aber die Stasi Regie führte. Diese Regie sollte jedoch für die „Kursanten“ unerkannt bleiben. Als ausgebildete „Grenzaufklärer“ wurden sie den NVA-Kompanien zugewiesen, um an „vorderster Front“ – zwischen der Grenzbefestigung und der eigentlichen Westgrenze der DDR – als Einzelpatrouillen zu operieren. Äußerlich waren sie Angehörige der NVA-Grenztruppen, sie unterstanden jedoch dem MfS. Einige von ihnen nutzten die Gelegenheit zur problemlosen Flucht in den Westen und berichteten. Noch vor dem Ende der DDR zog das MfS seine Ausbildungskurse von der Stintenburg-Insel zurück. Die Zentralschule mit ihrer bisherigen Struktur und Ausrichtung wurde mit dem gesamten Personal im Herbst 1986 nach Schulzendorf bei Königs Wusterhausen verlegt. Die Befehlsgewalt wurde wieder dem Grenzregiment übergeben.
Heute bewirtschaften die Nachfahren von Albrecht Graf von Bernstorff, dem im Schlosspark ein Ehrenmal errichtet ist, wieder die beiden Inseln.

All das hat Wolf Karge sehr ausführlich beschrieben und sorgfältig mit Quellen gesichert. Er hat die Akten unterschiedlicher Archive sowie die Stasi-Unterlagen durchforscht und zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen geführt. Damit ist erstmals Licht in die jüngere Vergangenheit der Stintenburg-Insel gebracht worden, in eine Vergangenheit, von der auch die näheren Anwohner kaum eine Ahnung hatten. Der Autor hat der Landesbeauftragten für die Unterstützung gedankt – wir, die Leser, haben dem Autor zu danken.

Das Buch ist auch erhältlich in der Geschäftsstelle der Landesbeauftragten.

Walter Kempowski:
Das Echolot – Abgesang ’45
Ein kollektives Tagebuch. 496 Seiten, Albrecht Knaus Verlag, München 2005. 49,90 Euro, ISBN 3-8135-0249-X.

Der Untertitel, „Ein kollektives Tagebuch“ ist sehr wörtlich zu nehmen, denn eine große Anzahl von Autoren – die nie solche werden wollten - berichtet hier. Es sind Menschen aller Kategorien, die ihre Empfindungen und Erlebnisse aus der Zeitspanne vom 20. April bis zum 8./9. Mai 1945 überliefert haben. Es sind die Worte von Protagonisten der Nazipartei, die ihren Irrsinn bis in die letzte Konsequenz fortsetzen oder die versuchen, die eigene Haut zuretten. Es sind Generale und Offiziere, die Befehle an nicht mehr vorhandene Befehlsempfänger richten. Es sind Briefe von Soldaten, die die Sinnlosigkeit ihres Handelns vor Augen haben. Ziellos auf den Straßen dahin ziehende Flüchtlinge haben für irgendjemand eine Nachricht aufgeschrieben. Befreite KZ-Häftlinge und Ostarbeiterinnen finden ihre Sprache wieder. Schier unendlich ist die Reihe. Im repräsentativen Schnitt wird die Gesellschaft in einer Fülle von authentischen Berichten erfasst. Bekannte und Unbekannte, Mächtige und Ohnmächtige, Sieger und Besiegte, Russen und Deutsche, Amerikaner und Engländer sind in einer Collage vereint. So entsteht ein Bild, wie kein Historiker es umfassender und eindringlicher darstellen könnte. Wer diese Zäsur des 20. Jahrhunderts miterlebt hat, wird sich dem Sog der Texte kaum entziehen können. Die Nachgeborenen stehen vielleicht erstmalig einer ungeschönten, durch ihre Vielstimmigkeit gesicherten Chronik gegenüber. Wer einen Zusammenhang zum bisherigen literarischen Werk von Kempowski sucht, wird hier den historischen Hintergrund zu seinen großen Familienromanen entdecken können. Bereits vor etlichen Jahren bezeichnete Kempowski das Jahr 1945 als „den Schlund des Trichters, auf den alles zudringt“.

Bernd Knabe
Die Praxis des politischen Strafrechts in der Honecker-Zeit
Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2016, broschiert, 328 Seiten. Preis  69,- Euro;   ISBN  978-3-8487-3641-6

Es waren nicht nur die Führungskader der SED und des MfS auf die Erich Honecker in seiner uneingeschränkten Machtausübung vertraute, sondern ebenfalls willfährige Juristen in allen höheren Justizinstitutionen. Der Autor untersucht die Wechselbeziehungen zwischen SED und MfS einerseits und der DDR-Justiz andererseits. Nahezu alle in Ost-Berlin tätigen Staatsanwälte und Richter haben sich den Weisungen des SED-MfS-Systems in absoluter Hörigkeit gefügt. In diesem Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der DDR-Strafrechtspraxis wird versucht, anhand konkreter Fälle die Verhaftung, die Bearbeitung und die Verurteilung unter dem Blickwinkel zu untersuchen, welche Rolle dabei Staatsanwälte, Richter und auch Rechtsanwälte gespielt haben. Um dem nachzugehen, wurden die BStU-Unterlagen von 27 Einzelfällen von Hohenschönhausener Häftlingen herangezogen, die sich in vier Gruppen unterteilen lassen:  „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ und „Menschenhandel“ / „Antragsteller auf Ausreise“ / „Geheimnisverrat“ / „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“ und „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“. Die Häftlinge waren dem abgestimmten Agieren von „Untersuchungsorgan“ (MfS) und „aufsichtsführendem Staatsanwalt“ ausgeliefert. Mit einer Vielzahl von BStU-Dokumenten werden die einzelnen Vorgänge belegt.
Über die gesellschaftliche und politische Entwicklung der DDR während der Honecker-Zeit, 1971-1989, existieren zahlreiche Veröffentlichungen, die durch diese Publikation für die Bereiche Rechtswesen und Strafjustiz sehr sinnvoll ergänzt werden.

Hubertus Knabe:
Tag der Befreiung ? - Das Kriegsende in Ostdeutschland
Propyläen Verlag Berlin 2005; gebunden, 388 Seiten und 35 Fotos; Preis 24 Euro. ISBN 3-549-07245-7

Anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes stellt Hubertus Knabe – Wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen – die Frage, ob dieses Datum wirklich als Tag der Befreiung anzusehen ist.
Im damals von den West-Alliierten besetzten Bereich war der 8. Mai 1945 zweifelsfrei ein Tag der Befreiung, so hat es 1985 Bundespräsident Richard von Weizsäcker auch ausgesprochen. Wie leichtfertig es aber wäre, diese Ansicht nach der Wiedervereinigung auf ganz Deutschland zu übertragen, wird bei der Lektüre sehr deutlich. Für den Osten begann die Befreiung erst mit dem Ende der SED-Diktatur. Diese Wahrheit belegt Hubertus Knabe vielfach.
Der Autor hat ein ebenso mutiges wie wichtiges Buch vorgelegt. Er erfasst die Schrecken der ersten Tage, Wochen und Monate nach Einmarsch der Roten Armee in Deutschland, unter dem die Zivilbevölkerung, ganz besonders die Frauen zu leiden hatten. Es sind aber nicht nur die von der Riesenzahl von Rotarmisten ausgeführten Gräueltaten, sondern auch der über viele Jahre von höchster sowjetischer Stelle befohlene Staatsterror gegen unliebsame Gruppen und willkürlich verdächtigte Einzelpersonen im sowjetischen Machtgebiet. Die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald u. a. stehen nicht nur für die Schrecken des NS-Regimes, sondern auch für die NKWD-Willkürherrschaft. Der NKWD beherrschte die gesamte sowjetische Besatzungszone. Dennoch wird die Frage, ob der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war, immer wieder neu gestellt.
Der nahtlose Übergang im Osten von einer Diktatur in die andere wird in jedem Kapitel unter verschiedenen Gesichtspunkten deutlich gemacht. Auf Befreiung sollte logischerweise Freiheit folgen, doch die gab es zu keiner Zeit im östlichen Teil Deutschlands. Über Jahrzehnte haben die DDR-Machthaber ein propagandistisch verzerrtes Geschichtsbild gepredigt, das noch heute von der SED-Nachfolgepartei uneingeschränkt vertreten wird. So droht eine verfälschte Geschichtsschreibung „wahr“ zu werden. Dagegen wendet sich dieses Buch.
Ein zusätzlicher Dank gilt dem Autor dafür, dass er sich nicht durch die jüngsten Propagandaaktivitäten der Neonazis der Verpflichtung zur historischen Wahrheitsfindung entsagt hat, obgleich die Gefahr, von falschen Freunden vereinnahmt zu werden oder in ein ungewolltes Lager gerückt zu werden, groß ist. Auch das ist Zivilcourage.

Hubertus Knabe:
Die Täter sind unter uns - Über das Schönreden der SED-Diktatur
Propyläen Verlag, Berlin 2007; 384 Seiten, gebunden; Preis 22,- Euro, ISBN 978-3-549-07302-5

Zwei Ereignisse könnten die Öffentlichkeit aus ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der SED-Diktatur aufgerüttelt haben: Der Auftritt der Stasi-Obristen im März 2006 in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und der Oscar gekrönte Film „Das Leben der Anderen“. Bis dahin konnten die Alt-Aktivisten des MfS in aller Ruhe ihre ehemaligen Kameraden in neuen Verbänden sammeln.
Als namhafter Kenner der Szene untersucht Hubertus Knabe wie es möglich war, dass die im Herbst 1989 mit Schimpf und Schande vertriebenen Stasi-Kader wieder auferstehen konnten. Es war schon ein Wunder, dass die SED im Gegensatz zu ihrer großen Bruderpartei überleben konnte. Entsprechend der Nazi-Partei hätte man sie verbieten sollen! So konnte sie mit einem Etikettentausch einen neuen, demokratischen Inhalt vortäuschen. Aber niemals distanzierte sich die PDS von den Verbrechen der SED oder trennte sich von ihrer Kommunistischen Plattform, die sich noch heute zu Stalin bekennt. Toleranz, Gleichgültigkeit oder Naivität der Demokraten und formaljuristische Bezüge der Justiz ermöglichten auch den höchsten SED- und Stasi-Funktionären die Fortsetzung ihrer Aktivitäten nach der Wende. Unter der Bezeichnung „Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung (GRH)“ bildeten sie zunächst eine Hilfsorganisation für straffällige DDR-Funktionäre, die vom Berliner Senat auch noch als förderungswürdig anerkannt wurde. Inzwischen gibt es in der GRH Arbeitsgruppen wie die AG Sicherheit, die als heimliche Schaltstelle für ehemalige Stasi-Offiziere fungiert, oder die AG Grenze, die ein Sammelbecken für die ehemaligen Angehörigen der DDR-Grenztruppe darstellt. Neben der GRH gibt es weitere Organisationen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die Vergangenheit der DDR umzuschreiben. Es geht also schon längst nicht mehr um Verdrängen der Vergangenheit, sondern um blanken Geschichtsrevisionismus. Der Erinnerung an die DDR ein freundliches Geschichtsbild zu geben und das Scheitern nur als Folge von Fehlern in einem erfolgversprechenden Versuch darzustellen, ist das Ziel dieser durchorganisierten Funktionärscllque.
In vier großen Kapiteln, legt der Autor seine Erfahrungen im Umgang mit dieser Problematik vor: 1. Die schöne Welt der Diktatur; 2. Täter ohne Strafe; 3. Opfer ohne Lobby; 4. Die Stasi lebt. Dabei beruft er sich auf mehr als 500 Quellen und fügt eine umfangreiche Bibliographie an. Die Anlehnung des Titels an den ersten großen Wolfgang-Staudte-Film „Die Mörder sind unter uns“ ist sicher kein Zufall.
Man muss dieses Buch gelesen haben, denn noch niemals ist so deutlich über die immer noch aktiven und jede Schuld leugnenden Vertreter der SED-Diktatur geschrieben worden.

Hubertus Knabe:
Honeckers Erben - Die Wahrheit über Die Linke
Propyläen Verlag, Berlin 2009; 447 Seiten, 22,90 Euro; ISBN 978-3-549-07329-2

Unter allen Zeithistorikern, die sich mit der DDR-Vergangenheit auseinandersetzen, gehört Hubertus Knabe mit seinen scharfsinnigen Analysen zu den schonungslosesten Kritikern der SED-Diktatur. Im vorliegenden Buch wird in drei Abschnitte unterteilt. Unter „Herkunft“ wird in mehreren Kapiteln ein Zusammenhang entwickelt, der von der Gründung der KPD 1919 über Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu Gregor Gysi und Oskar Lafontaine führt. Obwohl beide ausgesprochene Antidemokraten waren, beruft sich Die Linke auf sie. Dabei sollte doch eigentlich die dritte Umbenennung, der von PDS in Die Linke, die SED-Vergangenheit vergessen lassen.
Im zweiten Abschnitt „Politik“ wird deutlich gemacht, wie Gysi nach dem tiefen Fall der SED-Funktionäre 1989/90 die Versprengten gesammelt und ihnen neuen Mut gemacht hat. Nicht Auflösen, sondern ein neues Etikett war dabei sein Prinzip. So unternahm er alles, um das SED-Vermögen zu retten. Wo kam dieses Vermögen her und wo sind die bisher nicht gefundenen riesigen Teile davon geblieben? Wie konnte die total marode Partei wieder zu politischer Macht gelangen? Ebenso wurde mit dem Umgang der Sprache demagogisch taktiert, indem man geschickt formulierte: Belegte Sachverhalte werden mit anderen Begriffen besetzt. So wird der parlamentarisch beschlossene Beitritt zur Bundesrepublik durch den Begriff „Anschluss“ ersetzt. Damit soll sprachlich an großdeutsche Annexionen erinnert werden. Rechtsstaatliche Gerichtsurteile werden als Siegerjustiz diffamiert.
Im dritten Abschnitt mit dem Thema „Personal“ stehen die Lebensläufe von Gysi und Lafontaine im Mittelpunkt. Die enge Verbundenheit von Lafontaine mit Erich Honecker wird sehr ausführlich dargestellt. Aber auch die anderen Protagonisten geraten auf den Prüfstand. Erschreckend deutlich wird hier auch der hohe Anteil von ehemaligen SED-Genossen, die heute in der Parteispitze und als Bundestagsabgeordnete aktiv sind. Mit weit über 600 Quellenangaben belegt der Autor all seine Aussagen, womit nicht nur die Glaubwürdigkeit des Textes belegt wird, sondern auch den linken Kadern die Gegenargumentation schwer gemacht wird. Hubertus Knabe zeigt, was hinter den Kulissen dieser Partei abläuft, die die Öffentlichkeit über ihr wahres Innenleben perfekt täuscht und nicht zuletzt deshalb auf eine völlig unkritische Haltung der bundesdeutschen Medien aber auch breiter Wählergruppen trifft. Dieses Buch geht alle an, die sich um die politische Zukunft Deutschlands Sorgen machen.


Hubertus Knabe und Andreas Engwert (Hrsg.)
Inhaftiert in Hohenschönhausen  – Zeugnisse politischer Verfolgung 1945-1989
Nicolai - Der Hauptstadtverlag, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2015. Format 22 x 26 cm, 239 Seiten, durchgehend mit sehr vielen, meist farbigen Abbildungen und Dokumenten. Preis 16,95 Euro;ISBN 978-3-89479-947-2

Vorgestellt wird das Buch als Katalog zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, aber es ist weit mehr. Es ist eine ausführliche Dokumentation des Terrors, der hier inmitten der Großstadt hinter hohen Mauern über vier Jahrzehnte praktiziert und ständig perfektioniert wurde. Der Weg von primitiven, nahezu archaischen Zuständen im Sommer 1945 bis zu einer organisierten Perfidie wird in Wort und Bild dargelegt. Es sind also nicht nur die Abbildungen der Exponate mit ihren Erläuterungen, es ist auch ein umfassender Text, der die Entwicklung vom sowjetischen Speziallager bis zur zentralen Untersuchungshaftanstalt des MfS beschreibt. Die einzelnen Ausstellungsstücke beeindrucken, weil sie Ausdruck der leidvollen Erfahrungswelt der Häftlinge sind. Dennoch kann eine solche Ausstellung nur Stückwerk sein, denn Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst, Not und Verzweiflung lassen sich nicht bildlich darstellen. Das zu ergänzen, bleibt dem Betrachter überlassen.
Doch der Katalog verweist auch auf die Gegenseite, auf diejenigen, die die Macht ausübten. Mit einem regelrecht anerzogenen Hassgefühl begegneten Aufseher und Vernehmer den Gefangenen. Jedes Gespür für Recht und Gerechtigkeit sowie Menschlichkeit war ihnen abhanden gekommen. Sie fühlten sich in ihrer Anonymität sicher, doch die Ausstellung gibt ihre Identität frei. Der Katalog zeigt ihre Gesichter und Auszüge aus ihren Biografien.
Gezeigt wird auch das Dienstzimmer des Leiters, Oberst Siegfried Rataizick. Von hier aus herrschte er nicht nur über die Haftanstalt Hohenschönhausen, sondern über 17 Untersuchungshaftanstalten des MfS in der gesamten DDR. Noch im Jahr 2011 war er davon überzeugt, nichts falsch gemacht zu haben: „…was dort behauptet wird, sind Unwahrheiten der sogenannten Zeitzeugen, […] sind Lügen, sind Gräuelmärchen. […]  Ich würde gerne die DDR wieder haben.“  Allein diese Worte von Siegfried Rataizick rechtfertigen die Ausstellung und machen den Wert dieses Begleitwerkes aus.


Jürgen Kniesz (Hrsg.)
Herbst ’89 in Waren (Müritz) - Zeitzeugen berichten über die Friedliche Revolution
Verlag müritz.buch, Waren/Müritz 2020, 443 Seiten, mit Dokumenten und mehreren Fotos; Paperback; Preis 16,80 Euro;
ISBN 978-3-928117-39-5

Als die zentrale Veranstaltung des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Erinnerung an den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution in Waren stattfand, wurde damit die besondere Bedeutung der Stadt für die Ereignisse im Herbst ’89 gewürdigt. Es war der authentische Ort, denn hier hatten sich damals erstmals im Norden der DDR Menschen zusammengefunden, um im freien Meinungsaustausch ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Sie haben ihre wohlbegründete Angst überwunden und haben ihr Anliegen öffentlich gemacht.
Jürgen Kniesz, Leiter des Stadtgeschichtlichen Museums Waren, hat die Berichte von mehr als zwanzig Frauen und Männern zusammengestellt und in einer Rahmengeschichte verbunden. Jeder von ihnen erzählt seine ganz persönliche Geschichte, wie er in den Kreis derer gelangt ist, die es wagten aufzustehen. So ist dieses Buch zu einem einzigartigen Dokument geworden. Nichts ist geglättet oder geschönt worden – jeder spricht seine Sprache. Die vergangenen dreißig Jahre haben manche Erinnerung ausgedünnt, doch die Eindrücke sind geblieben. Für manchen sind die damaligen Tagebucheinträge eine wertvolle Hilfe und manchmal werden sie auch unverändert widergegeben. Da wird auf die Kommunalwahl im Mai 1989 verwiesen: „… Diese [die Wahlkabinen] standen ganz hinten im Wahllokal. Der Gang in die Kabine, mit den Augen der Anwesenden im Rücken, fühlte sich für mich wie Spießrutenlaufen an. Aber ich war stolz, meine Angst überwunden zu haben.“ 
Die offensichtlichen Fälschungen der Wahlergebnisse schürte die Wut der Betrogenen. Eine junge Frau berichtet, wie sie vor Empörung und Verzweiflung das Kurt-Tucholsky-Zitat, „Nichts ist schwieriger und nichts erfordert mehr Charakter als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: NEIN !“  an eine Fensterscheibe pinselte und sich damit „Luft machte“.
Nur wenige Monate später trafen sich etwa zwanzig Leute in einer kleinen Wohnung in der Langen Straße und sprachen offene Worte. Man kannte nicht jeden und wusste nicht, wem man vertrauen konnte, dennoch unterschrieben sie ihre Eintrittserklärung in das Neue Forum.
Am 16. Oktober 1989 fand dann die erste Fürbittandacht in der Georgenkirche mit Pastor Hans-Henning Harder statt. Danach zogen an die tausend Menschen stumm und mit Kerzen in der Hand zur Marienkirche, um dort die Andacht zu beenden. Bereits wenige Tage später endete der Umzug durch die Stadt auf dem Neuen Markt mit einer öffentlichen Andacht von Pastor Harder vor etwa zweitausend Teilnehmern, direkt neben dem Rathaus. „Wir sprechen aus, was wir wollen, wir stehen auf und üben den aufrechten Gang. Eine Hoffnung lernt laufen.“
So berichten nahezu alle, die in diesem Buch ihre Erinnerung für die Zukunft bewahrt haben. Aus der Vielzahl ergibt sich ein geschlossenes Bild, das etwas über die Zeitgeschichte aussagt und Teil der Stadtgeschichte sein wird.
Dem kleinen Verlag, der sich hier engagiert hat und dem sicher alle Möglichkeiten einer großen Werbung fehlen, möchte man danken und eine große Leserschaft wünschen. Den Autoren gilt Respekt für ihre damalige Haltung und Dank für ihre Mitarbeit.

Karin König
Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben
Hermann Flade – Eine Biographie
Lukas Verlag, Berlin 2020, 200 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, broschiert; Preis 19,80 Euro, ISBN 978-3-86732-353-6

Der frühe Widerstand gegen die SED-Diktatur droht mehr und mehr zu verblassen. Die Zeitzeugen, die sich Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre gegen den Verlust von Freiheit und Demokratie eingesetzt haben, sind kaum noch vorhanden. Gerade deshalb ist das Buch von Karin König so wichtig. Nur wenige erinnern sich an den damaligen Oberschüler Hermann Flade, gegen den im Januar 1951 vom Landgericht Dresden ein Urteil gesprochen wurde, das ein Justizverbrechen darstellt.

Als am 15. Oktober 1950 die völlig undemokratischen Wahlen zur Volkskammer in der DDR stattfanden war Hermann Flade 18 Jahre alt. Aus Protest fertigte er Flugblätter an und verteilte sie in seinem Wohnort Olbernhau im Erzgebirge. Als er dabei von der Volkspolizei gestellt wurde, wehrte er sich mit einem Taschenmesser, was ihm das Gericht als Mordversuch vorwarf. Das Urteil, das auf höhere Weisung erfolgte, lautete auf Todesstrafe. Ein unmittelbar einsetzender weltweiter Protest bewirkte, dass bereits nach knapp drei Wochen eine Revisionsverhandlung stattfand und das Urteil auf 15 Jahre Zuchthaus geändert wurde. Für zehn Jahre hielt die DDR Flade in ihrer Gewalt gefangen.

Die Autorin befasst sich bereits seit vielen Jahren mit dem Thema. In dem im Beck-Verlag 2002 erschienenen Buch "Opposition und Widerstand in der DDR – Politische Lebensbilder", herausgegeben von Karl Wilhelm Fricke, Peter Steinbach und Johannes Tuchel, stell sie Hermann Flade vor. In dem jetzt vorliegenden Buch beschreibt Karin König in ihrer ergreifenden und sehr detaillierten Darstellung den ganzen Lebensweg von Hermann Flade bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1980. Darin beleuchtet sie ganz besonders sein uneingeschränktes Engagement für Recht und Freiheit. In einem einführenden Kapitel wird die damalige politische Entwicklung unter der Überschrift "Die DDR im Jahr 1950" zusammengefasst. In ihren Nachbemerkungen fragt die Autorin dann nach dem Sinn des Widerstands und schließt "ohne die Proteste, ob als Einzelner oder in einem Volksaufstand, sähe die Geschichte der ehemals sozialistischen Länder anders aus".

Der frühe Widerstand gegen die aufkommende zweite deutsche Diktatur, an dem Oberschüler und Studenten einen hohen Anteil haben und der im Volksaufstand am 17. Juni 1953 seinen Höhepunkt hatte, hat die DDR-Führung für ihre gesamte Existenzzeit verunsichert. Die Angst vor dem eigenen Volk hat sie begleitet bis in den Herbst 1989.




Peter Köpf
Wo ist Lieutenant Adkins?  –
Das Schicksal desertierter Nato-Soldaten in der DDR
Ch. Links Verlag, Berlin 2013, gebunden, 224 Seiten, umfangreiches Quellenmaterial, 19,90 Euro, ISBN  978-3-86153-709-0

Bei einer Recherche ist der Autor auf unerwartete Quellen gestoßen: Etwa 200 Nato-Soldaten verschiedener Nationalitäten waren während der Zeit des Kalten Krieges von West nach Ost in die DDR geflüchtet. Anhand von zehn Personen ist er den Motiven und dem Schicksal dieser Menschen nachgegangen. Die Fluchtmotive waren sehr unterschiedlich: Politische Überzeugungen waren selten der Grund, aber Benachteiligung und Schikanen innerhalb der Armee aufgrund der Hautfarbe, Kleinkriminalität und Angst vor Bestrafung oder auch Liebesbeziehungen mit allen möglichen Konsequenzen waren recht häufig die Auslöser. In der DDR wurde jeder Überläufer als Sieg des Sozialismus gefeiert. Man bezeichnete sie als Freunde, aber behandelte sie wie Feinde. Die Stasi quetschte sie regelrecht aus und sperrte sie zunächst ein. In größtmöglicher Entfernung zur Grenze hielt man sie zu in Bautzen in einer Jugendstilvilla zunächst gefangen. In Seminaren sollten sie zum Sozialismus umerzogen werden. Später wies man ihnen Wohnungen in der Stadt zu, doch verlassen durften sie den Landkreis Bautzen nicht. Grundsätzlich war die Stasi aber sehr skeptisch bei der Einschätzung ihrer westlichen Asylanten. Deshalb wurde ein eigenes Referat gebildet, das sich mit dieser Personengruppe befasste. Hier wurden sie in gute und schlechte Deserteure eingeteilt. Neben den schlechten, den Rückkehrwilligen, wurden in einer dritten Gruppe die als Westagenten verdächtigten geführt. Natürlich hatten die westlichen Geheimdienste Interesse an dieser Szene, und mancher der seinen Schritt in den Osten bedauerte, suchte Kontakte, um seine Flucht in den Westen zu ermöglichen. Dagegen baute die Stasi ihr Spitzelsystem auf. Viele begriffen, dass sie von einer persönlichen Einschränkung in eine weit größere geraten waren, und da Zuhause eine erhebliche Freiheitsstrafe auf sie wartete, steckten sie in einer Falle. In diesem Spannungsfeld sind etliche zerrieben worden. Auch das sind menschliche Schicksale im Kalten Krieg. Der Autor, Peter Köpf, hat mit seinem Buch auf ein Thema aufmerksam gemacht, von dem bisher in der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt war.


Ilko-Sascha Kowalczuk
17. Juni 1953
C.H.Beck Verlag, München 2013, Originalausgabe in Taschenbuch-Reihe Beck Wissen, 128 Seiten, 8,95 Euro, ISBN  978-3-406-64539-6

Für die SED-Führungsclique waren die Vorgänge am 17. Juni 1953 ein faschistischer Putschversuch. Nach nüchterner Überlegung konnten sie es selbst wohl nicht glauben, aber niemals sprach einer von ihnen diese Zweifel aus. Als einzige Abschwächung war noch der konterrevolutionäre Putsch vertretbar. Von dieser Massivpropaganda, die jeder Lehrer seinen Schülern von der ersten bis zur letzten Klasse predigte, blieb aber stets ein Rest in der Bevölkerung erhalten. Selbst bei den oppositionellen Gruppierungen, die sich Ende der 1980er Jahre zusammenfanden, erschien das Datum verdächtig bis suspekt, und eine Beziehung zwischen den „1989ern“ und den „1953ern“ bestand nicht. Erst nach 1990 konnte aus dem Aktenbestand die ganze Wahrheit über die Abläufe erforscht werden.

Ilko-Sascha Kowalzcuk hat nun mit analytischer Präzision die Vorgeschichte, die Abläufe und die Folgen der Revolution vom 17. Juni 1953 beschrieben. Der Autor ordnet dieses Ereignis eindeutig in die Reihe der deutschen Revolutionen ein. Der Text ist in sieben Kapitel gegliedert. Unter der Überschrift „Kalter Krieg gegen die eigene Gesellschaft“ sind die negativen Auswirkungen der Beschlüsse der 2. SED-Parteikonferenz vom Sommer 1952 auf die gesamte Entwicklung in der DDR anschaulich zusammengestellt. Eine alle Schichten der Bevölkerung umfassende Gesellschafts- und Wirtschaftskrise war unübersehbar geworden. Moskau befahl daraufhin der SED-Führung einen rigorosen Kurswechsel. „Der neue Kurs“ wurde propagiert und versprach eine „rosa-rote DDR“, doch die Entwicklung war nicht mehr aufzuhalten. In mehr als 700 Städten und Dörfern begehrten etwa eine Million Menschen gegen die Staatsmacht auf. Was zunächst als Arbeiterstreik gegen Normerhöhungen begann wurde zum Volksaufstand mit der Forderung nach Freiheit und Demokratie. Beispielhaft werden die Ereignisse nicht nur in Berlin, sondern in der ganzen DDR von der Küste bis zum Erzgebirge angesprochen. Sehr interessant sind die Folgekapitel: „Die Rache der Herrschenden“; „Internationale Reaktionen“ und „Die Zukunft des 17. Juni“. Die abschließende Bibliographie zeigt die Vielzahl der Literatur zu diesem Thema und dennoch hebt sich die oftmals kritische Arbeit von Ilko-Sascha Kowalczuk, in der propagandistische und geschichtspolitische Verzerrungen ausgeräumt werden, deutlich hervor. Für das moderne, freiheitliche Europa könnte der 17. Juni 1953 ein Markstein der politischen Erinnerungskultur sein.

Anita Krätzner Die Universitäten der DDR und der Mauerbau 1961
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2014, 307 Seiten, gebunden, mehrere Abbildungen, sehr umfangreiches Literaturverzeichnis, Preis 44 Euro, ISBN 978-3-86583-808-7

Das Buch ist aus der Dissertation der Autorin hervorgegangen, die unter der Anleitung von Prof. Dr. Werner Müller, Philosophische Fakultät der Universität Rostock, angefertigt wurde.

In einem weit gefassten Rahmen wird der Frage nachgegangen, wie die Universitäten der DDR mit der einschneidenden Zäsur umgegangen sind, die durch die absolute Grenzschließung am 13. August 1961 entstanden war. Einführend wird die Lage an den Universitäten von der Zweiten Hochschulreform bis 1961 beschrieben. Dabei erfolgt auch ein Rückblick auf die stalinistische Phase mit den berüchtigten Verhaftungswellen durch die Sowjets und die Staatssicherheit der DDR. Hier wird allerdings weitgehend auf die Aufarbeitungsliteratur verwiesen. Sehr deutlich wird hingegen im Kapitel „Vorgaben für die Universitäten nach dem Mauerbau“ dargelegt, wie die Militarisierung mit dem „Kampfauftrag der FDJ“ einsetzte und die Repressionen auf die gesamte Universität massiv zunahmen. Im großen, zentralen Kapitel „Die Reaktionen an den Universitäten“ werden die Vorgänge an jeder der sieben Universitäten der DDR sehr gut untersucht, wobei auch deutlich auf persönliche Auseinandersetzungen einzelner Universitätsangehöriger mit der Partei eingegangen wird. Von besonderem Interesse sind diese Ergebnisse für die Untersuchungen an der Universität Rostock, wo sowohl Studenten als auch Lehrende in die Auseinandersetzungen mit der Partei und der FDJ gerieten. Hier bildeten offenbar die Medizinische, die Schiffbautechnische und die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät besondere Schwerpunkte.

Zusammenfassend kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die Frage, ob die Universitäten 1961 in der DDR nach dem Willen der SED funktionierten, sich eindeutig mit Nein beantworten lässt. Die herrschende Partei versuchte zwar ihren Einfluss mit aller Macht geltend zu machen und in allen Entscheidungsgremien der Universitäten das Sagen zu haben, aber die Verwirklichung dieser Absichten gelang – zumindest zu diesem Zeitpunkt – nur zum Teil.

Mit dieser Arbeit ist für einen herausragenden Abschnitt in der Nachkriegsgeschichte der ostdeutschen Universitäten ein wesentlicher Beitrag erbracht, der speziell für die Universität Rostock eine wertvolle Ergänzung der Aufarbeitungsliteratur darstellt.

Ivan Krastev und Stephen Holmes
Das Licht, das erlosch
Ullstein Verlag, Berlin 2019, 366 Seiten, gebunden. Aus dem Englischen von Karin Schuler. Preis 26,- Euro; ISBN 978-3-550-05069-5

Als 1945 die Nazi-Diktatur zusammengebrochen war, suchten weite Kreise der Jugend in den freiheitlichen Ideen des Liberalismus eine Zukunft. Die Entwicklung eines liberalen, freiheitlichen Rechtsstaats im westlichen Teil Deutschlands bestätigte weitgehend diese Hoffnung. Als dann mit dem Beginn der 1990er Jahre die kommunistische Diktatur zerfiel, erschien das liberale Demokratiemodell alternativlos. Heute, dreißig Jahre später, hat sich insbesondere in Ostmitteleuropa, dem Bereich des ehemaligen Warschauer Paktes, ein Großteil der Staaten von diesen Grundideen getrennt.
Wie konnte das geschehen? Dieser Frage gehen die beiden Autoren nach. Im „Nachahmen“, so sein zu wollen wie „der Westen“, sehen sie den Schlüssel. Denn diese Bemühungen mussten scheitern. In die wachsenden sozialen Ungleichheiten stießen die Populisten und Nationalisten mit ihren Verheißungen. Vergleiche zwischen „Brüssel“ und dem Kreml wurden konstruiert und zeigten Wirkung. Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik wurde mit den Argumenten „Übervölkerung“ und „Entfremdung“ blockiert. Außerdem zeigt der Blick auf China, wie eine absolut antiliberale Politik den Aufstieg zur Weltmacht ermöglicht. Auch der US-Präsident Donald Trump macht in seinem täglichen Umgang mit den Grundsätzen der Demokratie deutlich, dass er für seine Großmachtpolitik auf liberale Grundwerte verzichtet.
Als Fazit stehen die Autoren vor der Frage, ob damit die liberale, freiheitlich-demokratische Staatsform weltweit sich auf dem Rückzug befindet, gar zum Scheitern verurteilt ist, oder ob es einen Weg in eine liberale Zukunft gibt. „Vielleicht findet sich ja noch ein gangbarer Weg zu einer liberalen Genesung auf gleichermaßen vertrauten wie neuartigen Grundlagen. Gegenwärtig scheint die Chance auf eine solche Neuerung gering. Und doch können sich die antiliberalen Regime und Bewegungen […] als kurzlebig und historisch folgenlos erweisen […].“

Ein Hoffnungsschimmer:   Im Sommer 2019 wurde die sozial-liberale Politikerin Zuzana Čaputová zur Präsidentin der Slowakei gewählt.


Gunter Lange
Der Nahschuss – Leben und Hinrichtung des Stasi-Offiziers Werner Teske


Ch. Links Verlag, Berlin 2021; 253 Seiten, mit mehreren Abbildungen, Preis 22,- Euro; ISBN 978-3-96289-117-6

Der Autor rekonstruiert die Biografie eines Menschen, die weit über seine Lebenszeit hinausgeht und die einen ganz besonderen Einblick in den finstersten Bereich der DDR-Diktatur gewährt.
 
Werner Teske, geboren 1942, hat offensichtlich eine erfolgversprechende Zukunft vor sich. Während seiner Studienzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin gehört der "Jugendfreund Werner Teske zu den besten Studenten seiner Seminargruppe". Er ist voll integriert, die DDR ist seine politische Heimat. Sein Institutsdirektor bezeichnet ihn als Nachwuchstalent, dem eine berufliche Karriere bevorsteht. Aber auch das MfS wurde auf den inzwischen promovierten Wissenschaftler aufmerksam, denn genau diese Leute suchte man für die Auslandsspionage. Teske wurde halb gewollt und halb gezogen hauptamtlicher Mitarbeiter der HVA. Er unterschrieb den Teufelspakt, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Mit wachsender Unzufriedenheit bereitete er halbherzig seine Fluchtpläne vor. Ein ungehinderter Fluchtweg nach West-Berlin stand ihm offen, doch er nutzte ihn nicht. Alkohol und Unterschlagung von Geldern, die er für die Spionage nutzen sollte, vollendeten sein persönliches Chaos.

Am 11. September 1980 wird Teske verhaftet. Er macht es seinen Vernehmern leicht und nahezu erleichtert schildert er freimütig seine Fluchtpläne. So hofft er auf Verständnis für seine Situation, doch er erreicht das Gegenteil. Mit dem Vorwurf von Spionage und der Fahnenfluchtabsicht landet er vor dem Militärstrafsenat des Obersten Gerichts der DDR, das ihn am 12. Juni 1981 zum Tode verurteilt. Zwei Wochen später, am 26. Juni, überführt man ihn von Berlin-Hohenschönhausen in die Strafvollzugsanstalt Leipzig. Dort wird ihm eröffnet, dass die Vollstreckung der Strafe unmittelbar bevorsteht. "Bevor er die Konsequenz begreifen kann, steht dicht hinter ihm der Major Hermann Lorenz. …zielt auf den Hinterkopf und drückt ab."

Gunter Lange hat diesen Lebensweg akribisch aus den Akten rekonstruiert. Er zeigt in Detailtreue, wie ein Mensch zunächst aus Überzeugung und dann aus widerwilliger Pflichterfüllung vom Täter zum Opfer wird. Er zeigt aber auch, wie der Staat oder genauer die alles bestimmende Partei die Lebensweichen gestellt hat und dann in purer Menschenverachtung handelt. Die Worte von Erich Mielke, "Verrat ist das schlimmste Verbrechen" und "…Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil", sagen alles. Dementsprechend spricht das Gericht absolutes Unrecht, wenn es in der Urteilsbegründung von "vollendeter Spionage in besonders schwerem Fall in Tateinheit mit vorbereiteter Fahnenflucht in schweren Fall" spricht und damit das Todesurteil ausspricht. Zu keiner Zeit hatte Teske Kontakt zu irgendeinem Geheimdienst, sodass der Vorwurf der Spionage in besonders schwerem Fall eine reine Erfindung des Gerichts ist, um die von höchster Stelle angeordnete Todesstrafe zu begründen.

Selbst nach dem Tod wird das staatliche Unrecht fortgesetzt. Den Totenschein stellte das Standesamt Stendal am 15. Juli 1981 aus, wonach er am 26. Juni 1981 im örtlichen Krankenhaus an Herzversagen verstorben ist. Eine blanke Urkundenfälschung. Dem Bruder teilt man auf Anfrage mit, dass Werner Teske zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und danach Suizid begangen habe. Die Ehefrau, Sabine Teske, erhielt eine neue Identität und musste zwangsweise ihren Wohnsitz wechseln, zunächst nach Schwerin und dann nach Halle. Über ihr bisheriges Leben musste sie schweigen.

Wer Zweifel am Begriff "Unrechtsstaat" für die DDR hat, sollte dieses Buch sehr genau lesen.

Wolfgang Leonhard:
Meine Geschichte der DDR
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2007; 268 Seiten, mehrere Fotos; Preis 19.90 Euro, ISBN 978-3-87134-572-2

Noch bevor die DDR gegründet wurde, wurde Wolfgang Leonhard ihr Urdissident und bis zur letzten Stunde des Ostblocks blieb er mit seinem Insider-Denken einer ihrer schärfsten Kritiker. So erregte dann auch seit Veröffentlichung von „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ im Jahre 1955 jedes seiner weiteren Bücher Aufsehen. Der jetzt erschienene Titel „Meine Geschichte der DDR“ erzeugt Spannung. Aber der Leser wird zunächst enttäuscht. Man erhält den Eindruck, bereits Gelesenes serviert zu bekommen. Da sind die Jahre der Kindheit und Jugend in der Sowjetunion Stalins, die „Gruppe Ulbricht“ mit ihren Aktivitäten im zertrümmerten Berlin und sein Weg vom Idealisten zum Zweifler und Nein-Sager. Jedoch der Leser erfährt mehr als je zuvor, denn Leonhards Aussagen sind rücksichtloser geworden. Was zuvor noch verschwiegen werden musste, um niemand zu gefährden, kann jetzt offen ausgesprochen werden. Der Autor macht eindeutig klar, dass bereits in diesen frühen Jahren der Keim für die kommunistische Diktatur nach sowjetischen Vorstellungen in der DDR gelegt wurde.
Nachdem Wolfgang Leonhard mehr als die Hälfte seines Lebens in der Sowjetunion, der SBZ und in Jugoslawien gelebt hat, geht er 1950 in die Bundesrepublik und betritt ein völlig fremdes Land. Auch hier fühlt er sich vor den Verfolgungen der östlichen Geheimdienste nicht sicher. Die Entführungen von Robert Bialek, Heinz Brand und Karl-Wilhelm Fricke aus West-Berlin beschreibt er in ihrer erschreckenden Brutalität. Doch er bleibt seinem selbst gewählten Auftrag treu und analysiert über Jahre die Politik des Kremls und Ostberlins und blickt kritisch auf die bundesdeutsche Ostpolitik zurück. Hochinteressant werden die Ausführungen im Kapitel „Sprechen statt Schweigen“, in dem die Begegnungen mit den ehemaligen Stützen der SED-Diktatur nach der Wende beschrieben werden. Der abschließende Gedanke gilt den Widerständlern, den Bürgerrechtlern und Verweigerern, die seit 1945 aus unterschiedlichen Gründen sich dem Regime versagt haben und die um ihrer Ideale willen oft Leid auf sich genommen haben. „Wer waren diese Menschen, und warum hört man so wenig von ihnen?“
Es fällt leicht, diesem Buch Erfolg zu wünschen und es den interessierten Lesern zu empfehlen.

Irina Liebmann:
Wäre es schön? Es wäre schön! - Mein Vater Rudolf Herrnstadt
Berlin Verlag, 2008; 416 Seiten, gebunden; 19,90 Euro; ISBN 978-3-8270-0589-2

Die Liste der führenden Kommunisten, die von den kommunistischen Despoten, von Stalin bis Ulbricht, liquidiert, ausgeschaltet, zur Unperson erklärt wurden, ist lang. Rudolf Herrnstadt gehört in diese Aufzählung. Eine Lebensbeschreibung, die lediglich den Aufstieg und Fall eines SED-Politrepräsentanten wiedergibt, wäre gewiss von minderem Interesse. Doch dieses Buch ist weit mehr.
Irina Liebmann stellt das Leben ihres Vaters in engen Zusammenhang mit dem Zeitgeschehen, man darf sagen mit der Weltgeschichte. Sie beschreibt aber auch das Innere der deutschen kommunistischen Emigrantenszene in Moskau, in der ständige Machtkämpfe und Rivalitäten das Zusammenleben bestimmen. Herrnstadt, der während des Krieges in diesen Kreis gerät, bleibt dort ein Fremder. Die gleiche Fremdheit begleitet ihn auch in den Nachkriegsjahren in der Führungselite der SED. Irina Liebmann schildert solche Begebenheiten aus nächster Nähe und stellt gleichzeitig mit der kritischen Distanz ihre zweifelnden Fragen. Herrnstadt will andere Wege als der Dogmatiker Ulbricht einschlagen, er folgt seinen Idealen: Demokratie und Sozialismus sollen vereint werden. Als er nach dem 17. Juni 1953 im Politbüro den Rücktritt Ulbrichts fordert und der scheinbar darauf eingeht, ist sein Schicksal besiegelt. Er wird zum Parteifeind erklärt und aller Ämter enthoben, sogar aus der SED ausgeschlossen. Damit ist sein Lebensinhalt zerstört. Man schickt ihn in die grauste Tristesse der DDR, zwischen Buna und Leuna. Das ist Verbannung! Herrnstadt ist nun eine Unperson.
Wie kaum ein anderes durchleuchtet dieses Buch den intriganten Machtapparat des SED-Zentrums mit Walter Ulbricht an der Spitze. Man wird es mit Wolfgang Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ in eine Reihe stellen können. Irina Liebmann sieht beides, das ehrliche Bemühen des Vaters und die Realitätsblindheit eines hochintelligenten Mannes, der der Menschheit einen Neuanfang aus der Stunde Null bescheren wollte und scheitern musste, wie er es an seinem Lebensende wohl selbst gesehen hat. Die Tochter wollte nun den von den eigenen Genossen verfemten Vater rehabilitieren. Dazu hat sie das beste Mittel gewählt: ein ehrliches Buch. Im leichten, exzellenten Stil ist ihr eine Chronik gelungen, die weit über einer bloßen Dokumentation steht. Dafür ist sie mit dem Leipziger Literaturpreis ausgezeichnet worden. Karl Wilhelm Fricke schließt seine Rezension mit den Worten: „Wer Irina Liebmanns unbedingt empfehlenswertes Buch über ihren Vater liest, legt es mit nachdenklicher Betroffenheit aus der Hand.“ Dem ist nichts hinzuzufügen!

Erich Loest:
Prozesskosten
Steidl Verlag, Göttingen 2007, 300 Seiten, Leineneinband, 18,- Euro, ISBN 978-3-86521-423-2

„Erzählt soll werden von politischen Umwälzungen in der Sowjetunion, in Polen und Ungarn und von Gerichtsverfahren in der tiefen DDR …“, so beginnt Erich Loest seinen Bericht, der über eine Zeitspanne von fünfzig Jahren reicht.
Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag im Februar 1956 in Moskau und die folgende kurze Periode des „Tauwetters“ ermutigt innerparteiliche Reformer und Schriftsteller in der DDR über tiefgreifende Veränderungen zu debattieren. Das brutale Ende des Ungarn-Aufstands macht allen Hoffnungen ein Ende. In der DDR rechnen Ulbricht, Mielke und Hilde Benjamin mit den „Konterrevolutionären“ ab. Vor Gericht werden Gedanken und Worte zu verbrecherischen Taten. Für Loest bedeutet das sieben verlorene Jahre als Strafgefangener 23/59 in Bautzen II, der gerade entstandenen Stasi-Festung. „Eine nicht zu begreifende Zeit“. Nur Walter Kempowski, der zehn Jahre zuvor entsprechendes durchlebt hat, hat das eigentlich Unbeschreibliche zuvor beschrieben. Loest folgt ihm. Aber er erzählt nicht nur seine persönliche Geschichte, sondern er stellt sie in einen großen zeitgeschichtlichen Zusammenhang. Das gibt dem Buch den ganz besonderen Aspekt. Schon Anfang der achtziger Jahre hat Erich Loest mit seinem autobiografischen Bericht „Durch die Erde ein Riss“ einen vorsichtigen, ersten Versuch unternommen, diese Zeit aufzuarbeiten. Doch nachdem alle Spitzelberichte und Stasi-Akten zugänglich wurden, war irgendwann mit diesem umfassenden Lebensbericht zu rechnen. Es sind die lebenslangen Kosten für einen lebensverändernden Prozess. Zweifelsfrei gehört „Prozesskosten“ zu den wichtigsten Büchern, die Aufschluss über das inhumane, völlig verkrustete Machtsystem der SED-Diktatur liefern.

Erich Loest:
Löwenstadt
Steidl Verlag, Göttingen 2009; Roman; 343 Seiten, gebunden. 20 Euro; ISBN 978-3-86521-882-7

„Literatur kann das alles nicht ändern. Aber sie kann – und sei es im Nachhinein – durch Sprache eine Wahrheit erfinden, die zeigt, was in und um uns herum passiert, wenn die Werte entgleisen.“
Herta Müller auf dem Nobel-Bankett in Stockholm am 10.12.2009

Passend zum deutschen Jubiläumsjahr hat Erich Loest seiner Heimatstadt, der Stadt mit dem Löwen als Wahrzeichen, in diesem Roman ein Denkmal gesetzt. Das bereits vor 25 Jahren in seinem Roman „Völkerschlachtdenkmal“ bearbeitete Thema ist nun in „Löwenstadt“ eingearbeitet worden. Dabei ist Hervorragendes entstanden!
Von der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 bis in die Gegenwart erzählt ein alter Mann, Fredi Linden, die Lebensgeschichte seiner vornamengebenden Altvordern und seine eigene, die sich kaum unterscheiden – alle sind sie Verlierer. In ausgeklügelter Form führt Loest seinen Fredi Linden vor, der nach Stasi -Verhör bei der Psychiatrie landet und dort den Fragen des Professors in scheinbarer Einfältigkeit verschmitzt und hintergründig erzählend antwortet. Fredi, von Beruf Sprengmeister, wollte die bleierne Zeit der Parteidiktatur und die über „sein Denkmal“ gekommene Geschichtsvergessenheit nicht mehr ertragen und plante mit ein paar nach dem Krieg versteckten Granaten das Denkmal in die Luft zu sprengen. Die Leipziger Universitätskirche hatten die Anderen schon flach gemacht. Sein Plan flog auf. Fredi war der Verlierer und die DDR machte ihren Ewigkeitsanspruch geltend. Damit war das Ende der Geschichtsschreibung scheinbar erreicht. Dann aber kamen die Montagsmarschierer und die Geschichte ging doch weiter. Sie hatte nicht im SED-Betondenken ihr Ende gefunden. Was aber kam dann? Nach kurzer Abtauchpause waren sie wieder da. Sie saßen nicht mehr in großen und kleinen Politbüros, sondern an wirkungsfähigen Schalthebeln. Neue Kämpfe im Schatten des Denkmals folgten, dabei ging es um Marxköpfe und Wendehälse, die aus alten Pfründen schöpften. Jetzt versteht Fredi nicht einmal mehr seinen eigenen Sohn, der nun Teil einer Seilschaft ist. Fredi versinkt im Altenheim, wo er nun nur noch seine Zuhörer findet. Dann tritt er ganz leise ab. Sein letzter Satz bleibt unvollständig. All das ist mit sarkastischem Humor gewürzt und die Phantasie sprengt alle Grenzen.
Der Roman ist eine mit grollendem Zorn und zarten Tönen versehene Liebeserklärung an die geschundene Stadt – vielleicht der schönste von Erich Loest.

Erich Loest:
Man ist ja keine Achtzig mehr - Tagebuch
Steidl Verlag, Göttingen 2011, 233 Seiten, gebunden, 18 Euro; ISBN  978-3-86930-236-2

Wie kaum ein anderer der bedeutenden Schriftsteller hat Erich Loest die jüngste deutsche Geschichte beschrieben. Dabei war er nicht nur Chronist, sondern auch Repräsentant. Seine Romane summieren sich zur deutschen Geschichte der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und reichen bis in unsere Tage. Dahinter steht stets auch die eigene Biografie.
In seinem neuen Buch tritt er nun selbst in den Vordergrund. Er nennt es Tagebuch, doch eigentlich sind es Aphorismen, Gedanken zur Zeit. Es sind die Dinge, die ihn innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne bewegten. Ganz willkürlich beginnt er im Herbst 2008 mit einem persönlichen Tiefschlag: Sein eigener Sohn ist gerichtlich gegen ihn und sein literarisches Werk vorgegangen. Loest ist der Verlierer. Seine Gesundheit nimmt Schaden. Aber so wie der Tag wechselt auch die Szene. Persönliche Freundschaften werden offenbart, auch Alltägliches wird mitgeteilt und natürlich treibt ihn auch das nimmer müde politische Engagement. Er ist betroffen wegen seiner dahindümpelnden eigenen Partei, der SPD. Alte Seilschaften zeigen sich immer unverhohlener. Er wettert gegen das Marxmonstrum am Leipziger Universitätshauptgebäude und gegen das Agitprop-Gemälde „Arbeiterklasse und Intelligenz“, das den Sieg des Kommunismus über Aufklärung und Humanismus an der Leipziger Universität feiert. „Aufrecht stehen“ bleibt seine Devise, auch wenn er jetzt keine Achtzig mehr ist.

Wir brauchen sein Gewissen!

Dietrich von Maltzahn
Mein erstes Leben oder Sehnsucht nach Freiheit
Belleville Verlag, München 2010, broschiert, 232 Seiten, 18,- Euro, ISBN  978-3-933510-97-6

Die DDR war zehn Jahre alt, als Dietrich von Maltzahn 1959 in Schwerin das Abitur bestand. Unmittelbar danach teilte der Direktor seiner Schule ihm mit, dass er seinen Antrag auf Zulassung zum Studium erst dann weiterleiten würde, wenn er die Sünden seiner Väter wieder gut gemacht hat. Das war seine erste direkte Konfrontation mit dem SED-Staat. Mit einem Jahr Verspätung konnte er dann doch in Rostock mit dem Medizinstudium beginnen. Aber die Stasi nahm ihn bald ins Visier. In einer üblen, verlogenen Denunziation hatte man ihm etwas angedichtet, und schon holten sie ihn. Mit Mühe und konsequenter Beharrlichkeit konnte er sich von dem Vorwurf befreien. Ein zweites Mal nahm ihn die Stasi fest, als er bereits als leitender Arzt am Krankenhaus in Boltenhagen an der Ostsee arbeitete. Ein Freund war geflüchtet, und nun verdächtigte man ihn der Mitwisserschaft. Nach zwei Tagen mussten sie ihn frei lassen, weil nichts zu beweisen war. Für von Maltzahn stand aber fest, dass in diesem Staat kein Platz für ihn sein konnte. Mit seiner Frau und den beiden Töchtern versuchte er im November 1975 mit Fluchthelfern die DDR zu verlassen. Das Unternehmen scheiterte. Was dann folgte, wird in erschütternden Einzelheiten beschrieben. Dietrich von Maltzahn gelingt es, die ganze Palette der Vernehmungsmethoden im Rostocker Stasi-Gefängnis bildhaft zu machen, die vom freundlich, jovialen Entgegenkommen bis zu Drohungen, Gewalt und Folter reichten. Am 20. April 1976 verurteilte das Bezirksgericht Rostock den Arzt Dr. med. Dietrich von Maltzahn zu dreieinhalb Jahren Freiheitsentzug. Seine Frau Heide von Maltzahn erhielt zwei Jahre. Das Verfahren war, wie nicht anders zu erwarten war, ein abgekartetes Spiel mit verabredetem Urteil. Danach folgte der Weg durch die Zuchthäuser der DDR bis von Maltzahn schließlich in Bautzen im „Gelben Elend“ landete. Das war zu der Zeit bereits ein ungewöhnlicher Aufenthaltsort für politische Gefangene, denn das Haus wurde längst von Kriminellen beherrscht, sodass von Maltzahn sich als der einzige politische Häftling fühlte. Aber man brauchte in diesem vergangenheitsbeladenen Gefängnis einen Arzt. Anstelle des stupiden Zellenalltags erhielt er zwar erleichterte Haftbedingungen, jedoch die seelischen und körperlichen Strapazen forderten Unerträgliches. Als Gefängnisarzt für 5000 Häftlinge lebte er ständig auf der Grenze zwischen Loyalität zu den Befehlenden und seiner ärztlichen Gewissenspflicht, wenn er bereits zwei Stunden nach Mitternacht bei den Arbeitskolonnen Kranke von solchen, die gerne krank sein wollten, zu unterscheiden hatte. Jeden Morgen standen an die Hundert vor seinem behelfsmäßigen Sprechzimmer, einem schäbigen Duschraum, um Hilfe von ihm zu bekommen. Hier gibt das Buch Einblicke in sonst nicht beschriebene Bereiche. Geschildert werden aber auch unerwartete menschliche Begegnungen mit dem Wachpersonal, die in dieser feindlichen Umgebung besonders stark empfunden wurden. Im Spätsommer 1977 wurden Heide und Dietrich von Maltzahn durch die Bundesregierung freigekauft. Gemeinsam mit ihren Kindern konnten sie im Westen ein neues, zweites Leben beginnen. All das hat der Autor gleich nach seiner Ausreise aufgeschrieben und dadurch ohne zeitlichen Abstand die Unmittelbarkeit der Erlebnisse bewahrt. Doch immer wieder stellt sich die Frage: Wie viele solche Bücher müssen noch geschrieben werden, bis auch der letzte Nostalgiker begreift, dass der SED-Staat von der ersten bis zur letzten Stunde ein nicht reparables Unrechtsregime war?

Harald Martenstein und Tom Peuckert
Schwarzes Gold aus Warnemünde
Aufbau-Verlag, Berlin 2015, 256 Seiten, gebunden; Preis 19,95 Euro, ISBN 978-3-351-03607-2

Die Szene kennt jeder: 9. November 1989 – Günther Schabowski zieht auf der international  besetzten Pressekonferenz in  Ost-Berlin den  berühmten Zettel aus der Tasche und liest vor: „Soeben ist mir mitgeteilt worden,“  - und jetzt kippt die Szene – „dass an der Ostseeküste der DDR umfangreiche Erdöllager entdeckt worden sind.  . . .“  Dadurch ist die DDR im Herbst ’89 nicht in den Abgrund gestürzt, sondern zum reichsten Land der Welt geworden. Der Westen aber verarmt, die Städte verfallen in graue Einöden. Geld spielt in der DDR keine Rolle mehr. Der Westen bettelt um Ost-Kredite. Ganz unten schuften nur noch die zugewanderten Wessis. Damit beginnt für die beiden Autoren der Start in eine fantastische Welt, in ein „Was wäre wenn?“

Als Undercover-Reporter, als ostdeutsche Wallraffs, finden sie Zugang zu allen Schichten. Sie sprechen mit dem DDR-Wirtschaftsminister Karl-Theodor Guttenberg, der alle Titel abgelegt hat, und mit Gregor Gysi, dem Kulturminister. Sie erfahren Sensationelles über Lenins Nichte, die sich entgegen der Parteidisziplin in den „kleinen Trompeter“ verknallt hat. Kati Witt plappert munter über die ideologischen Ziele des kubanischen Dschungelcamps. Das 25-jährige Jubiläum des Erdöl-Sozialismus wird im November 2014 mit einer nicht zu überbietenden Fress- und Sauforgie im Palast der Republik begangen. Großartig ist der Robotron-Report gestaltet. In dieser Hightech-Schmiede mit Hartmut Mehdorn als Generaldirektor beweist der Sozialismus seine absolute Überlegenheit: Apple, Microsoft, Samsung und alle anderen sind weit abgeschlagen. Die Robotron-Computer beherrschen die gesamte Welt. Aber dann in einer nächtlichen Szene offenbart sich der Boss, Mehdorn erklärt die ganze Leere und Verlogenheit des Riesenkombinats und damit den Selbstbetrug des ganzen Systems. Alles ist hohle Fassade. Hier liegt wohl der Schlüssel dieses vor Ironie sprühenden Romans: Der Reichtum ändert nichts an der grundsätzlichen Misere der DDR. Stasi und Grenzkontrollen, Fahnen, Transparente und Umzüge vor Männern in grauen Anzügen auf den Tribünen, all das existiert nach wie vor.

Es ist ein ganz anderes Buch über die DDR. Erst jetzt, wo es da ist, merkt man, dass es bisher gefehlt hat. Vielleicht ist die Fantasie doch der einzige Schlüssel zur Wahrheit. Deshalb muss man dieses Buch unbedingt lesen.

Die demaskierten Undercover-Reporter:

Harald Martenstein kennt man aus seiner Kultkolumne im Zeit-Magazin.

Tom Peuckert ist freier Theaterautor, Dokumentarfilmer und Hörspielautor.


Elisabeth Martin
„Ich habe mich nur an das geltende Recht gehalten“  –
Herkunft, Arbeitsweise und Mentalität der Wärter und Vernehmer der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen

Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2014, 465 Seiten, broschiert, 84 Euro, ISBN 978-3-8487-1684-5 Die bisherigen Berichte von ehemaligen politischen Häftlingen beschreiben im Allgemeinen die Zustände in den Stasi-Untersuchungshaftanstalten (UHA) aus der Perspektive derer, die ganz unten waren. Ein Blick auf die, die sie in ihrer Gewalt hatten, auf das MfS-Personal, das für die infamen Vernehmungen und für die menschenverachtenden Lebensbedingungen verantwortlich war, fehlt. In der vorliegenden umfangreichen und sehr gut lesbaren Publikation, die aus der Dissertation der Autorin hervorgegangen ist, richtet sich die Perspektive auf die Mitarbeiter und zwar speziell in der zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. Dabei lautet die der gesamten Arbeit zugrunde liegende Frage: „Wie war es möglich, dass Menschen über viele Jahre widerspruchslos und skrupellos die von ihnen verlangten Tätigkeiten ausführten?“ Nach einer intensiven Einführung und einem Einblick in den gegenwärtigen Stand der Forschung folgt zunächst eine kurze Betrachtung zur Vorgeschichte der Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Hohenschönhausen, die bereits im Mai 1945 begann. Zunächst entstand das sowjetische Speziallager Nr.3 und danach das MGB-Untersuchungsgefängnis, das im Sommer 1951 an das MfS übergeben wurde. Das nächste große Kapitel führt zum Kern der Untersuchung. Unter den Aspekten „soziale und familiäre Herkunft, Rekrutierung, Bildungsstand und Altersstruktur“ wird ein soziologisches Profil des Personals erstellt. Breiten Raum nimmt ebenfalls die Untersuchung der Arbeitsweise und der Methoden bei der Überwachung der Gefangenen und während der Vernehmungen ein. Diese Strategien werden analysiert. Durch laufende ideologische Schulung wurden die Mitarbeiter immer wieder auf das Feindbild ausgerichtet. Der Film „Das Leben der Anderen“ zeigt einen MfS-Mitarbeiter der zweifelt. Aber wie realistisch ist eine solche Version? Aus der in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnis geht hervor, dass es solche Selbstzweifel oder gar Verweigerungen nicht oder höchstens als seltenste Ausnahmen gegeben hat. Noch heute ist ein erheblicher Anteil der damaligen MfS-Vernehmer und -Wächter der Meinung, die sie durch gerichtliche Freisprüche und Verfahrenseinstellungen bestätigt sehen, dass sie nach damaligem Recht und Gesetz gehandelt haben. In einem abschließenden Resümee wird eine Beziehung von der kommunistischen Vergangenheit zur Gegenwart hergestellt. Eine tiefer gehende Analyse dieses Systems hat es bisher wohl nicht gegeben, deshalb gebührt Elisabeth Martin Dank für diese wichtige Arbeit, die allen Interessierten im hohen Maß empfohlen wird.

Zu wandeln die Zeiten. Erinnerungen
Markus Meckel

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020; 492 Seiten mit 34 Fotos, Hardcover. Preis 29,80 Euro; ISBN 978-3-374-06355-0

„Nicht abfinden mit der Realität, sondern sie verändern“, das waren die Worte von Markus Meckel bei der Buchvorstellung in der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, die als Motto über diesem außerordentlichen Buch stehen könnten.
Das gesamte Erscheinungsbild der DDR von der Gründung bis zu ihrem Ende ist in diesem Lebenslauf zu finden.

Aufgewachsen ist Markus Meckel im elterlichen Pfarrhaus. Der Vater war nach zehn Jahren Krieg und Gefangenschaft als überzeugter Pazifist heimgekehrt. Dieser Pazifismus hat Markus Meckel fürs Leben geprägt. Bereits während der Schulzeit geriet er in den Widerspruch zur staatlich verordneten Meinung. Das Abitur wurde ihm verweigert. Es folgte das Theologiestudium in Naumburg am Katechetischen Seminar und danach die Zeit als Gemeindepastor im mecklenburgischen Vipperow südlich der Müritz. Hier entstand im Herbst 1982 ein erster Friedenskreis zur Nachrüstungsdebatte, an dem unter Missbilligung der Amtskirche auch viele Nichtchristen beteiligt waren. Doch der Kreis der Beteiligten wuchs und die politischen Aktivitäten gingen bald über die eigene Gemeinde hinaus. Zwangsläufig wurde die politische Arbeit Teil des Lebens von Markus Meckel. Doch all das bis dahin Geschilderte ist Vorgeschichte, von vielen in der DDR ähnlich erlebt.

Bereits in Vipperow war eine enge Freundschaft zu Martin Gutzeit entstanden. Beide kamen im Frühjahr 1989 auf die Idee, eine neue Partei in der DDR zu gründen. Das noch vor Jahren tödliche Vorhaben schien vor dem Hintergrund der durch Gorbatschow eingeleiteten politischen Veränderungen realisierbar zu sein. Die Beschreibung dieses Zeitabschnitts ist ein echter Höhepunkt. In einem umfangreichen Kapitel erfährt der Leser weitgehend Unbekanntes über die Umstände, die zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei führten. Meckel bezeichnet es als „einen Paukenschlag des Umbruchs“ als ausgerechnet am 40. Jahrestag der DDR-Gründung, am 7. Oktober 1989 im Pfarrhaus von Schwante nahe Oranienburg, die SDP gegründet wurde. Auf die Frage, warum Pastoren ausgerechnet eine sozialdemokratische Partei gründeten, antwortet er, „aus theologischen Gründen“! Die Rolle dieser Partei während der Friedlichen Revolution schließt sich in einem weiteren Kapitel an.

Es folgte ein Höhepunkt nach dem anderen. Im unmittelbaren Anschluss an den Mauerfall ergriffen beide – Meckel und Gutzeit – die Initiative zur Gründung eines Runden Tisches in Ost-Berlin, der einen Gegenpol zur Regierung Modrow darstellen sollte. Dort standen sofort aktuelle Fragen an. Die Entmachtung der Stasi hatte zentrale Bedeutung. Aber das große Ziel war, einen Weg zu freien Wahlen zu finden.

Mit dem 18. März 1990 änderte sich das Leben von Markus Meckel tiefgreifend. Die Bevölkerung der DDR hatte erstmals frei gewählt, es entstand die Regierung unter Lothar de Maizière, in der Meckel Außenminister wurde. Es folgt der Weg in die Ost-West-Wiedervereinigung, das wohl spannendste Kapitel in diesen Erinnerungen. Hier eröffnet das Buch mit sehr vielen Details tiefe Einblicke in Unbekanntes, es lässt den Leser ganz offen auch hinter die Kulissen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen blicken. Das ist einmalig!

„Zu wandeln die Zeiten“ ist jedoch keine bravouröse Erfolgsgeschichte, Markus Meckel beschreibt darin ebenso seine Niederlagen und persönlichen Schwächen. Das macht das Buch der Erinnerungen zu einem ehrlichen Buch, in dem annähernd 50 Jahre Zeitgeschichte wachgehalten werden.


Eckard Michels
Guillaume, der Spion  –  Eine deutsch-deutsche Karriere
Ch. Links Verlag, Berlin 2013, 414 Seiten, mit Abbildungen; 24,90 Euro, ISBN  978-3-86153-708-3

Am 29. April 1974 titelte der Spiegel zum Fall Guillaume und bezeichnete ihn als die größte Spionageaffäre in der Geschichte der Bundesrepublik. Es war sicher der spektakulärste Fall mit aufsehenerregenden Folgen, wohl aber nicht der größte Geheimnisverrat.

Eckard Michels hat bestens recherchiert – als erster Historiker erhielt er Einblick in mehrere Tausend Seiten Verschlussakten des Bundeskanzleramtes. So konnte er den Weg Guillaumes von dessen Stasi-Einschleusung im Jahr 1956 bis zu seiner Tätigkeit im Bundeskanzleramt und darüber hinaus in die Zeit nach der Wiedervereinigung verfolgen. Dabei wird der reißerische Spionagekrimi auf ein belegbar, realistisches Maß reduziert. An dem hoch übertriebenen Bild hat Günter Guillaume selbst gearbeitet, denn nach seiner Haftentlassung prahlte er in maßloser Überheblichkeit von seiner Rolle als Meisterspion. Und genau das war er nicht! Ohne die unvorstellbaren Fehler des Verfassungsschutzes wäre er bereits vor seinem großen Coup gescheitert.

Markus Wolf, Chef der DDR-Spionage, hatte anderes mit ihm vor: Er wollte Guillaume als eine Art Feuermelder im Bonner Zentrum platzieren, d.h. er sollte rechtzeitig über einen eventuell bevorstehenden „Spannungsfall“ informieren. Stattdessen berichtete er über weit weniger Gewichtiges. Michels macht anhand der Quellenlage deutlich, dass im MfS bei der HVA seine Mitteilungen nicht mit der höchsten Qualitätseinstufung versehen waren. Als einer von drei Kanzlerreferenten war Guillaume lediglich mit Parteiangelegenheiten befasst. Für Innen- bzw. Außenpolitik waren andere zuständig. Als er dann jedoch im Sommer 1973 Willy Brandt in den Norwegenurlaub begleitete änderte sich die Situation. Plötzlich gelangte er in die Nähe des Kanzlers und hatte vollen Einblick in die Ereignisse; er wurde Bindeglied zwischen dem Kanzleramt in Bonn und dem Bundeskanzler. Doch hier liegt gleichzeitig das größte Rätsel: Von seinen Berichten ist nichts in der Eingangsregistratur der HVA vermerkt, so der eindeutige Beweis der SIRA-Datenbank, eine Art Posteingangsbuch.

Aus einer Indizienkette entwickelt der Autor eine Spekulation, wie es möglich war, dass diese Berichte niemals ihr Ziel erreicht haben. Die Ostpropaganda jubelte über den Erfolg, einen  „Kundschafter des Friedens“ bis in die höchste Bonner Regierungsebene gebracht zu haben, aber im Politbüro war man nicht sehr glücklich. Honecker warf Mielke und Wolf unverantwortlichen Leichtsinn vor und erwog beide abzulösen. Schließlich hatte man gerade zwei Jahre zuvor 100.000 DM zur Bestechung von zwei Unionsabgeordneten eingesetzt, um das Misstrauensvotum gegen Brandt zu verhindern. Nach der Wende bezeichnete Markus Wolf sein Vorgehen gegen Willy Brandt als einen Fehler und entschuldigte sich.

Aus der gesamten Darstellung des Falls Guillaume wird sehr deutlich, dass der Rücktritt von Brandt nicht zwingend war. Der Vorgang erschütterte zwar die Bundesrepublik, brachte für Brandt aber eine deutliche Sympathiesteigerung – auch innerhalb der DDR-Bevölkerung. Dazu verweist der Autor auf einige interessante Beispiele:  In einer öffentlichen Sprechstunde im Amtssitz des Staatsrates verlangten acht Jugendliche Auskunft zu diesen Vorgängen. In Apolda war am Bahnhofsgebäude der Spruch zu lesen, „SED hat Brandt verraten“. In Güstrow versuchten drei junge Frauen vergeblich auf dem Postamt ein Telegramm an Brandt aufzugeben, in dem sie ihr Bedauern über seinen Rücktritt ausdrückten, und in Neustrelitz änderten Unbekannte ein Straßenschild in „Willy-Brandt-Straße“. Damit blieb der SED nur noch, den Vorgang herunter zu spielen.

Das Ehepaar Guillaume trennte sich nach seiner Scheidung vom gemeinsamen Namen. Christel Guillaume nahm ihren Geburtsnamen wieder an und Günter Guillaume den seiner zweiten Frau. Ihre Vergangenheit konnten sie damit nicht ablegen
In vielen Facetten ist dem Autor ein äußerst aufschlussreiches Buch gelungen, das bestens empfohlen werden kann.

Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs u.a. (Hrsg.):
Wer war wer in der DDR? - Ein Lexikon ostdeutscher Biographien

Chr. Links Verlag, Berlin 2010, in Kooperation mit der Stiftung Aufarbeitung, 5. aktualisierte und erweiterte Neuausgabe; 1.604 Seiten in zwei Bänden, gebunden; 49,90 Euro; ISBN  978-3-86153-561-4

Kurze Zeit nach der Wiedervereinigung erschien die erste Ausgabe dieses Lexikons mit etwa 1.500 Einträgen. In den folgenden Auflagen wurde der erfasste Personenkreis erheblich erweitert. Im Vergleich zur vorherigen, 4. Auflage von 2006 konnten 800 weitere Einträge zugefügt werden, so dass nun 4.000 Biographien erfasst sind. Diese Sammlung von Lebensläufen von Persönlichkeiten der DDR aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Sport sowie aus dem Bereich der Systemkritiker, Oppositionellen und Widerständlern erfolgt ohne jede Wertung. Nüchtern und sachlich werden die Lebensdaten und die Funktionen wiedergegeben und gegebenenfalls auf Sekundärliteratur verwiesen. Sehr wertvoll sind die angefügten Register, so das Verzeichnis der seinerzeit in der DDR gängigen Abkürzungen für Institutionen und Organisationen. Das Autorenverzeichnis gibt jeweils eine kurze Vorstellung der 130 Bearbeiter dieses mit enormer Sorgfalt erstellten Lexikons. Im Register der Pseudonyme findet man sowohl Künstlernamen als auch Tarn- und Decknamen, aber auch Namen, die vom MfS für Personen zu derer Observation gewählt wurden.
Für jeden, der sich mit der DDR-Vergangenheit befasst, ist dieses biographische Lexikon seit Jahren ein unverzichtbares Hilfsmittel, das mit dieser Ausgabe nochmals an Wert gewinnt.

Susanne Muhle Auftrag: Menschenraub  -
Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR
Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) - Band 42
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015,  670 Seiten  mit 12 Abbildungen  und 4 Tabellen, gebunden. Preis 49,99 Euro, ISBN 978-3-525-35116-1

Die Autorin bringt mit dieser Arbeit, die aus ihrer Dissertation hervorgegangen ist, Licht in eines der finstersten Kapitel der DDR-Vergangenheit. Während der Zeit des Kalten Krieges war West-Berlin insbesondere in den fünfziger Jahren ein „heißes Pflaster“. Etwa 400 Personen wurden zwischen 1949 und 1961 gewaltsam oder unter  Anwendung übler Tricks über die offene Sektorengrenze oder die innerdeutsche Grenze entführt. Susanne Muhle stützt ihre Aussagen auf frühere Veröffentlichungen, so von Karl Wilhelm Fricke, oder auf vielfältiges Aktenmaterial aus Ost und West. Sie studierte nicht nur die Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, sondern auch die der westdeutschen Strafverfolgungsbehörden. Dabei erwiesen sich die Unterlagen des Landgerichts Berlin, das nach dem Mauerfall zuständig war, als wichtige Quelle. Aber auch die West-Berliner Polizei verfügte über eine umfangreiche Namensliste, aus der Auskunft über die entführten Personen, über die Entführer und über den Ablauf der Entführung zu entnehmen war. Entsprechend gliedert Susanne Muhle auch den Hauptteil ihres Textes in zwei große Kapitel: „Die Entführungspraxis des MfS und ihre Folgen“ und „Entführer im Auftrag des MfS“. Ziel der Entführungen war primär, gefährliche Gegner und Abtrünnige ihres Regimes in die Gewalt der DDR zu bringen, aber auch den eigenen Leuten zu vermitteln: Überläufer holen wir von jedem Ort zurück. Ein weiterer Aspekt war, die Einwohner West-Berlins zu verunsichern und so die Moral zu zersetzen. Den in die DDR Verschleppten drohten drakonische Strafen – bis zur Todesstrafe.
Im zweiten Kapitel bemüht sich die Autorin anhand von 50 registrierten Entführern ein Täterprofil zu erstellen, und kann zeigen, dass es sich überwiegend um gewaltbereite, junge Männer der kriminellen Szene in Ost- und West-Berlin handelt. Für jeden Menschenraub wurden sie vom MfS recht üppig finanziert. Häufig machten die Entführer der Stasi auch eigene Angebote für eine mögliche „Zulieferung“ von Personen, die für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR interessant sein könnten. Die Entführungsaktionen wurden durch die West-Berliner Polizei natürlich sorgfältig registriert, aber die Täter blieben im Allgemeinen namenlos, und wenn es erforderlich war, bot die DDR ihnen Unterschlupf.  Nach der Wiedervereinigung schützte sie dann der Rechtsstaat: die Taten waren oftmals verjährt und den Hintermännern dieser Verbrechen war selten etwas zu beweisen. Noch heute deuten sie die Freisprüche als Beweis ihrer Unschuld. Aber gerade deshalb ist dieses Buch so außerordentlich wichtig. Es durchleuchtet eines der finstersten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte und charakterisiert die DDR als uneingeschränkten Unrechtsstaat. Der Autorin gilt es für diese Arbeit, die ein wichtiger Baustein in der Aufarbeitung der DDR-Diktatur ist, zu danken.

Andreas Petersen:
"Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren"
Ein Jahrhundertdiktat. Erwin Jöris

Marixverlag, Wiesbaden 2012, 520 Seiten, gebunden, mit 50 Abbildungen, mit CD Erwin Jöris im Interview, 24,90 Euro; ISBN 978-3-86539-284-8


Erwin Jöris konnte im Oktober 2012 seinen 100. Geburtstag feiern und auf ein Leben zurückblicken, wie es wohl kein vergleichbares gibt. Bis auf den Ersten Weltkrieg ist er durch alle Niederungen des 20. Jahrhunderts gegangen. In unzähligen Stunden hat er dem Autor, Andreas Petersen, seine Lebensgeschichte erzählt. Dabei ist ein spannender Text entstanden, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gefangen nimmt. Im Berliner Arbeiterbezirk Lichtenberg aufgewachsen findet Erwin Jöris wie selbstverständlich den Weg in den Kommunistischen Jugendverband KJVD, ganz so wie heutzutage die Jungen ihre Clique finden. Es ist mehr Pfadfinder-Romantik als das Bekenntnis zu Marx und Engels. "Links war damals für die Proletenmehrheit keine Ideologie, sondern Entkommenshoffnung aus Lebenskatastrophen."
Doch auf der Gegenseite formiert sich die SA, die Schlägertruppe der Nazis. Die blutigen Straßenschlachten folgen und Jöris mittendrin. Als Hitler dann seinen großen Sieg mit dem Fackelzug durchs Brandenburger Tor feiert, muss er untertauchen, wird gefasst und landet in einem der ersten Konzentrationslager, in Sonnenburg. Nach einem Jahr lassen sie ihn frei, doch er muss schriftlich zusichern, sämtliche politische Aktivitäten einzustellen. Dieses Papier wurde ihm zum Lebensverhängnis. Jöris sucht dennoch die alten Kreise auf und emigriert im Parteiauftrag mit falschem Pass über Prag und Warschau nach Moskau.
Seine Erwartungen an das "Vaterland der Weltrevolution, das freieste Land auf Erden" sind riesig. Entsprechend ist die Enttäuschung. Die täglichen Erlebnisse stimmen nicht mit dem vorgegebenen Bild überein. Schnell verliert er sämtliche Bindungen. Zwangsläufig erfasst ihn die stalinistische Justizwillkür im Schreckensjahr 1937. Als Trotzkist und faschistischer Spion landet er in der Lubjanka. Doch statt einer Verurteilung liefern ihn seine ehemaligen Genossen an die Gestapo aus. In Berlin erwartet er Schlimmes, doch man lässt ihn unerklärlicherweise laufen. Bald folgt die nächste Katastrophe: Der Zweite Weltkrieg bricht aus. Jöris wird eingezogen und erlebt den Russlandfeldzug im Vorwärts- und Rückwärtsgang mit all seinen Schrecken. Verwundet wird er nach kurzer Zeit aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Wieder in Berlin-Lichtenberg findet er in seine früheren Kreise zurück und der Tradition folgend tritt er erneut in die KPD ein. Die kleine Kohlenhandlung des Vaters bietet ihm ein bescheidenes Auskommen.
Aber die Zeichen der Zeit stehen inzwischen auf Sturm. Die Sowjets vergessen nichts! In seinen Akten entdecken sie seine Verzichtserklärung von 1933 aus dem KZ Sonnenburg, die als Zusammenarbeit mit der Gestapo ausgelegt wird. Das Schicksal nimmt seinen Lauf: Verhaftung – Hohenschönhausen - SMT-Urteil 25 Jahre Zwangsarbeit – GULag. Fünf Jahre verbringt Erwin Jöris fern von jeder Hoffnung unter den unmenschlichen Bedingungen in Workuta, nördlich vom Polarkreis. 1955 nach dem legendären Adenauer-Besuch in Moskau kann er endlich heimkehren. Doch die DDR kann ihm keine Heimat – schon gar keine politische – mehr sein. Mit seiner Frau, die jahrelang auf ihn gewartet hat, wählt er den Weg in den Westen.
Diese zweideutig als Jahrhundertdiktat betitelte Schilderung könnte auch als Diktat des Jahrhunderts verstanden werden. Der Autor, Andreas Petersen, hat für seine "biografische Erzählung" in den Archiven in Berlin, Moskau und Swerdlowsk recherchiert, hat Weggefährten der verschiedenen Lebensabschnitte befragt, mit Historikerkollegen sich auseinandergesetzt und alles mit der jüngsten Forschungsliteratur abgeglichen. So ist ein beachtliches, in sich geschlossenes Lebensbild eines einmaligen Zeitzeugens entstanden. Erwin Jöris gilt unser Respekt.


Andreas Petersen
Die Moskauer – Wie das Stalintrauma die DDR prägte
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019, 361 Seiten, gebunden.
Sehr umfangreiche Quellenangaben und gutes Literaturverzeichnis.
Preis 24,-  Euro;  ISBN  978-3-10-397435-5

Voller Hoffnung waren mehrere Tausend deutsche Kommunisten - Parteilose, kleine Funktionäre und die Spitzen des Politbüros - nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in das sogenannte Mutterland ihrer Ideologie geflüchtet und mussten sehr schnell in bitterster Enttäuschung ihren Fehler einsehen. Sie waren in eine Hölle geraten. Misstrauen und Verfolgung erwarteten sie und ein Entrinnen gab es nicht mehr. Andreas Petersen zeigt dieses Grauen an vielen konkreten Einzelschicksalen, die alle belegt sind. Überzeugte Genossen wurden verfolgt, bei Nacht vom NKWD abgeholt und verschwanden oftmals ohne Wiederkehr. All das wird so eindringlich beschrieben, dass man glaubt, es mitzuerleben. Wenn die Angehörigen dann voller Hoffnung bei den deutschen Spitzenfunktionären, z. B. bei Walter Ulbricht oder Wilhelm Pieck, Hilfe suchten, wurden sie mit vielversprechenden Worten bedacht, aber auch das waren nur Lügen. Um nicht selbst in den Verdacht zu geraten, mit Dissidenten in Kontakt zu stehen, denunzierten sie ihre eigenen Genossen. Auch dafür liefert der Autor konkrete Beispiele. Erschreckend ist die Bilanz: Stalin brachte mehr deutsche Kommunisten um als Adolf Hitler! Wer überleben wollte, musste seine absolute Unterwürfigkeit gegenüber Stalin ständig beweisen. Nach diesem Prinzip bildete Stalin ab 1943 seine Kernmannschaft, die nach Kriegsende in Deutschland ein kommunistisches System aufbauen sollte. So war es dann im Mai 1945 die sogenannte Gruppe Ulbricht und die ihr folgten, die durch ihre eigenen Moskauer Erfahrungen von Angst und Macht geprägt waren und die nun ihr Machtregime errichteten. Damit waren die Rückkehrer – „die Moskauer“ – nichts anderes als der verlängerte Arm Moskaus. Petersen nennt es in seinem Untertitel „Wie das Stalintrauma die DDR prägte“. Ein auf Lüge und Verrat basierter Staat nahm hier seinen Anfang und hielt über Jahrzehnte – längst nach Stalins Tod – an diesem Prinzip fest.

„Die Moskauer“ sind aber auch diejenigen, die im Exil den Terror überlebten, der sie über Jahre um ihr Leben fürchten ließ. Einige konnten erst nach dem legendären Adenauer-Besuch 1955 bei Chruschtschow aus den Lagern heimkehren, aber man zwang sie, zu schweigen. Hier liegt Petersens zweites Verdienst, indem er wiederum in belegten Einzelheiten solche Schicksale beschreibt. Man lese nur das Schlusskapitel „Lotte Rayss und die Familie Wolf – unerinnerte Liebe“.

Erst nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, nachdem die Archive zugänglich wurden und die Betroffenen über ihr Schicksal sprechen konnten, wurde dieser Blick hinter den undurchsichtigsten Vorhang, der weit hinter dem Eisernen Vorhang lag, möglich.

Andreas Petersen hat ein ganz wichtiges Buch geschrieben. Damit gibt er den Blick frei für das Innerste des Zentrums von politischer Gewalttätigkeit, dort wo der stalinistische Terror ungehemmt herrschte.

Andreas Petersen verdient dafür großen Dank.


Arsenij Roginskij, Jörg Rudolph, Frank Drauschke, Anne Kaminsky:
Erschossen in Moskau - Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1953
Metropol Verlag, Berlin, 2005; 400 Seiten, mit vielen Abbildungen und Dokumenten, 22,- Euro; ISBN 3-938690-14-3

Gemeinsam mit der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial International und dem Berliner Forschungsinstitut Facts & Files hat die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur das Schicksal von 927 Opfern des stalinistischen Terrors rekonstruiert. Das Buch soll zugleich einen stellvertretenden Grabstein für jene Menschen setzen, die nach dem Willen des sowjetischen Terrorsystems und seiner Machthaber in Moskau und Ostberlin namenlos und verschollen bleiben sollten.
Im Anfang des ersten Teils des Buches setzen sich die Autoren mit dem System der sowjetischen Militärjustiz in der SBZ/DDR auseinander. Danach erfolgt eine anhand von Archivunterlagen vorgenommene Rekonstruktion des schrecklichen Ablaufs von der Ablehnung des Gnadengesuchs der zum Tode Verurteilten bis zur anonymen Bestattung ihrer Asche auf dem Donskoje-Friedhof. Abgeschlossen wird der erste Teil mit der Schilderung der stets vergeblichen Bemühungen der Angehörigen, das Schicksal der Vermissten aufzuklären. Dokumente und Fotos schließen sich an.
Im zweiten Teil sind die Biografien – meist mit Foto - von 927 Deutschen zusammengestellt, die Opfer der kommunistischen Diktatur wurden und für die im Sommer 2005 ein Gedenkstein am Massengrab Nr.3 auf dem Donskoje-Friedhof errichtet wurde.
Mit diesem Buch werden die Opfer aus der Anonymität zurückgeholt, nach mehr als 50 Jahren erhalten sie ihre Namen zurück. Der Menschenrechtsorganisation Memorial International Moskau, dem Historischen Institut Facts & Files, Berlin, sowie der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gebührt ein großer Dank für diese hervorragende Arbeit.

Christian Sachse
Das System der Zwangsarbeit in der SED-Diktatur -
Die wirtschaftliche und politische Dimension
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2014; broschiert, 498 Seiten; 19,90 Euro; ISBN 978-3-86583-884-1
Die Veröffentlichung ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes im Auftrag der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft, UOKG.

Man darf es ganz sicher als ein Standardwerk im Kanon der DDR-Aufarbeitungsliteratur betrachten, was hier nach jahrelanger Forschungsarbeit vorgelegt worden ist. Unverständlicherweise dauerte es 25 Jahre bis das Thema Zwangsarbeit in den DDR-Haftanstalten öffentliches Interesse erlangte. Es waren die Pressemeldungen über den schwedischen IKEA-Konzern, die den Anstoß gaben.
Mit der gebührenden Gründlichkeit belegt der Autor das gesamte System der Zwangsarbeit im SED-Staat, an dem nicht nur die obersten Etagen des Parteiapparates und der Ministerien verantwortlich waren, sondern  ebenso große und kleine Wirtschaftsfunktionäre vom Kombinatsdirektor bis zum Brigadier. Das umfangreiche Belegmaterial zu Hintergründen und Auswirkungen der Zwangsarbeit wird durch persönliche Berichte von ehemaligen politischen Gefangenen ergänzt. Christian Sachse setzt sich auch mit dem Begriff „Zwangsarbeit“ auseinander. Natürlich hat Zwangsarbeit viele Erscheinungsformen: So wurde im sowjetischen GULag das „Menschenmaterial“ auf Verschleiß gefahren. Man veranschlagte die „Nutzbarkeitsdauer“ auf zehn Jahre, da ständig für „Nachschub“ gesorgt war, sollte das System funktionieren. Anders in der DDR; dort war das Arbeitspotenzial der Strafgefangenen eine echte Planungsgröße. Mindestens 600 Betriebe – ausländische, westdeutsche und DDR-eigene – waren daran beteiligt. Vom bezahlten Lohn schöpfte die DDR den Löwenanteil ab. Die körperlich schlechte Verfassung der Gefangenen und die teilweise extrem schlechten Arbeitsbedingungen führten zu hohen Unfallzahlen, was sich auf die Effektivität auswirkte. Der Autor zeigt auch, wie sich das Zwangsarbeitssystem im Laufe der DDR-Existenz entwickelt hat. In den ersten Jahren galt Arbeit in den DDR-Zuchthäusern als Vergünstigung und Arbeitsentzug somit als Strafe. Die Angst vor dem Rückfall in das eintönige Zellendasein setzte den Gefangenen so ebenfalls in eine Zwangssituation. Im Laufe der Jahre perfektionierte die DDR das System der Ausbeutung ihrer Strafgefangenen. Höchste Stellen der SED überwachten und steuerten schließlich das System. Insbesondere beeinflusste das ZK der SED aus wirtschaftlichen Motiven die Gefangenenquote, so dass die im Plan vorgesehene Zahl von Gefangenen mit der nötigen Intensität der Strafverfolgung korrespondierte.

Ein Erfolg war dem Buch bereits bei seiner Präsentation beschieden: Der Vorsitzende der UOKG, Rainer Wagner, regte einen Runden Tisch an, an dem Politik, Unternehmen und Betroffene beraten sollten, wie den Opfern der hier dokumentierten massiven Menschenrechtsverletzungen geholfen werden kann.

Susanne Schädlich
Herr Hübner und die sibirische Nachtigall
Droemer Verlag, München 2014, 235 Seiten, gebunden.
19,99 Euro
ISBN 987-3-426-19975-6

Es ist die Geschichte von zwei Menschen oder mindestens ein wesentlicher Teil ihrer Biographie, die sich völlig fremd sind, aber das gleiche Schicksal erleiden. Die kommunistische Diktatur raubte ihnen viele Lebensjahre.

Begegnet sind sich beide in Dresden, im NKWD-Gefängnis in der Bautzener Straße. Gesehen haben sie sich nie. Eine Wand trennte sie, und durch Klopfzeichen erfuhren sie von einander: Mara Jakisch und Dietrich Hübner. Sie, eine bekannte, lebenslustige Operettensängerin in den 30er Jahren und er, ein engagierter, junger Liberaldemokrat, der seit 1946 in der LDP in Dresden aktiv war. Sie war zufällig in Berlin mit Freunden zusammengekommen, die offenbar Kontakte zu amerikanischen Dienststellen hatten. Er hatte Parteifreunden, so auch Wolfgang Mischnik, zur Flucht in den Westen verholfen und war dabei seinem Vorgesetzten, einem bekannten Parteifunktionär, in die Falle gegangen.

Susanne Schädlich beschreibt den Weg dieser beiden Menschen. Mara Jakisch wurde im Januar 1947 verhaftet und nach zwei Jahren Untersuchungshaft zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Ein langer, bitterer Weg führt sie bis zum Herbst 1955 durch die Lager Sibiriens. Danach kann der Westen ihr nicht Heimat werden. Es gibt keine Brücken mehr in die Vergangenheit, und die Gegenwart bleibt leer.

Auch Dietrich Hübner wird von einem Sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Er landet im sowjetischen Speziallager Nr.4, im „Gelben Elend“ in Bautzen. Dort erlebt er den Aufstand der Gefangenen, die - dem Hungertod nahe - im März 1950 ihre Not aus den Fenstern in die Stadt schreien und von der Deutschen Volkspolizei zusammengeknüppelt werden. Seine nächste Station ist das Zuchthaus Brandenburg-Görden, sie nennen es den gläsernen Sarg und das hatte seinen Grund. Es dauert bis August 1964 bis man ihn nach 16 (!) Jahren Haft für 40.000 Deutsche Mark an den Westen verkauft. Auch er kommt als Fremder in ein fremdes Land. Wer versteht ihn? Ein führender Bundespolitiker – im Buch ist er mit Namen genannt – erklärt ihm, wenn er sich formell mit der Stasi arrangiert hätte, wäre er früher rausgekommen, und die Sache wäre erledigt gewesen.

Susanne Schädlich gelingt es, diese menschlichen Schicksale nicht nur eindrucksvoll zu schildern, sondern sie macht sie miterlebbar und nachfühlbar. Sie zeigt, wie ein inhumanes System Menschen an den Rand der Existenz bringt, und wie diese Menschen trotzdem ihre Würde bewahren. Wer das System kennen gelernt hat, wird sich selbst wiederfinden in diesem Buch, wer es nicht kennen lernen musste, sollte es deshalb lesen.


Susanne Schädlich
Briefe ohne Unterschrift – Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte
Knaus Verlag, München 2017, gebunden, 285 Seiten; Preis 19,99 Euro; ISBN 978-3-8135-0749-2

Susanne Schädlich („Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“, VN-Nr.45/2015) hat einen lange vergessenen Schatz gehoben und ihn auf großartige Weise öffentlich gemacht. In der Nähe von London, in einem Archiv in Reading hat sie in 233 Ordnern wohl sortiert die Dokumente gefunden, die die DDR bis aufs Blut gereizt haben. Es sind mehrere tausend über Deckadressen an die BBC in London geleitete anonyme Briefe aus der DDR, in denen Unzufriedenheit, Verzweiflung und Wut über das Leben dort mitgeteilt wird. Über 25 Jahre, von 1949 bis 1974, wurden von der BBC diese Briefe jeweils am Freitagabend in der deutschsprachigen Sendung „Briefe ohne Unterschrift“ verlesen. So wie auch bereits in der Nazizeit begann die Sendung mit den weithin bekannten vier Paukenschlägen – drei Mal kurz und ein Mal mit langem Nachhall - und der Ansage „Hier spricht England, hier spricht England“. Und genau wie in der vergangenen Zeit war es gefährlich, diese Sendung zu hören. Es hieß, BBC sind drei gefährliche Buchstaben. „Gefährlich für alle, die sich vor der Wahrheit fürchten, und besonders gefährlich für alle, die die Wahrheit hören wollen und sie unter großer persönlicher Gefahr auch tatsächlich hören.“  Für die DDR war die BBC ein Feindsender.
Susanne Schädlich hat eine Auswahl dieser Briefe in ihren Text übernommen und darin - deutlich erkennbar - eingefügt Ausschnitte aus den Stasi-Akten, mit den geplanten Gegenmaßnahmen gegen die Briefeschreiber und ebenso gegen die Macher der Sendung. Sie hat aber auch solche Antwortbriefe berücksichtigt, in denen ein positives Bild von der DDR gezeichnet werden sollte. Auch diese Briefe wurden verlesen, und so entstand in der Sendung zeitweilig der Eindruck man befände sich in einer Talkshow mit Rede und Gegenrede. Das macht den Text außerordentlich lebendig.
Etliche dieser Briefe wurden bei der Postkontrolle abgefangen, und die Stasi bemühte sich mit unvorstellbarem Aufwand, die Absender zu ermitteln. Wenn es ihr gelang, folgten drastische Strafen. Beispielhaft sind die Maßnahmen gegen einen Schüler aus Greifswald widergegeben, der schließlich wegen „staatsfeindlicher Hetze“ vor Gericht landet.
Das Buch bewahrt ebenfalls die Erinnerung an einen mutigen Journalisten, an Austin Harrison, der als Redakteur und Moderator von „Briefe ohne Unterschrift“ über Jahre mit dieser Sendung der DDR die Stirn geboten hat und gegen den die Stasi alle nur denkbaren Mittel eingesetzt hat, um ihn mundtot zu machen. 1974 hatte sich die politische Großwetterlage geändert. Die DDR war in die UN aufgenommen und auch von Großbritannien anerkannt worden. Daraufhin stellte die BBC die Sendung „Briefe ohne Unterschrift" ein.
Den Wunsch Austin Harrisons – auch das geht aus den Stasi-Akten hervor - die vielen, an ihn gerichteten Briefe mögen eines Tages in Buchform erscheinen, hat Susanne Schädlich dreieinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod mit einer überzeugenden Arbeit erfüllt.


Warlam Schalamow
Über die Kolyma – Erinnerungen
Reihe: Werke in Einzelbänden Bd.7

Herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein
Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2018, 286 Seiten, gebunden;
Preis 24 Euro, ISBN  978-3-95757-540-1

Um Schalamow zu verstehen, muss man seinen Lebensweg kennen, der vom Schrecken des Stalinismus schwer beschädigt worden ist.
Als junger Student wurde er wegen "konterrevolutionärer Agitation" 1929 verhaftet und zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Nach drei Jahren Zwangsarbeit im Ural kam er frei. Als dann Stalins "Große Säuberung" einsetzte, wurde er 1937 erneut verhaftet und in den äußersten Nordosten Sibiriens, in die Kolyma-Region, deportiert. Dort verbrachte er 14 Jahre unter unmenschlichsten Bedingungen, bis man ihn 1951 begrenzt frei ließ. Erst 1956 durfte er nach Moskau zurückkehren. Man erlaubte ihm, für eine sowjetische Literaturzeitschrift Gedichte zu schreiben, Prosa war verboten. Heimlich verfasste er in einzelnen Erzählungen seine Erinnerungen an das Leben im Lager und Reflexionen über das Leben dort. Das Manuskript schmuggelte er ins Ausland. Erst während der Perestroika konnten die "Erzählungen aus Kolyma" Ende der achtziger Jahre in der Sowjetunion erscheinen.
In dem nun vorliegenden 7. Band der Reihe schreibt Schalamow im Gegensatz zu den "Erzählungen aus Kolyma" autobiografisch über sich selbst und dabei auch über "Menschen ohne Biografie, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft". Die einzelnen Abschnitte, oft nur skizzenhafte Essays, sind nahezu unverbunden aneinander gereiht. Es sind kurze Texte über die Verhaftung und über die Vernehmungen in der Lubjanka, deren Schrecken er bereits aus seinen ersten Verhören, acht Jahre zuvor, kennt. Die Texte über die menschliche Existenz in der Lagerregion Kolyma sind teilweise schwer zugänglich, sie sind fast unerträglich, denn sie geben Einblick in eine Hölle, in der der Tod näher als das Leben ist. "Stirb du heute, und ich morgen."  Tod durch Arbeit ist Prinzip. Als er die Arbeit verweigert, hätte man ihn dafür erschießen können. Der Aufseher tut es nicht, nicht aus Menschlichkeit oder Mitleid, nein, aus purer Gleichgültigkeit. Das sind die Szenen einer Grenzexistenz ohne jegliche Zivilisation. Schalamow konnte diese durchlebten Abgründe, die sein Leben zerrissen haben, nie vergessen. "Er sah in der `Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates´ die Kernfrage seiner Epoche", so drückt es die Herausgeberin in ihrem Nachwort aus. 1982 ist Warlam Schalamow im Alter von 75 Jahren in Armut gestorben. Den Blick auf die Welt hatte er vorher bereits verloren.

Der Übersetzerin aus dem Russischen Gabriele Leupold, der Herausgeberin und dem Verlag ist zu danken, dass hier auf einen der bedeutendsten russischen Schriftsteller des 20.Jahrhunderts aufmerksam gemacht wird, der in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben ist.

Karl Schlögel
Das sowjetische Jahrhundert  -  Archäologie einer untergegangenen Welt
C.H. Beck Verlag, München 2017, 912 Seiten, 86 Abbildungen;
Preis 38,- Euro;  ISBN 978-3-406-71511-2

Der Autor – einer der namhaften Osteuropa-Historiker – ist der Archäologe, der hier die einzelnen Schichten der unterschiedlichen Lebensbereiche innerhalb der Sowjetunion freilegt. Dabei ist es keineswegs seine Absicht, eine neue Geschichte des Landes zu schreiben. Das Inhaltsverzeichnis macht bereits deutlich, wie hier Bilder einer Ausstellung komponiert werden, die jedes für sich einen Themenkomplex bietet. Es sind etwa 60 solcher „Bilder“, aus denen ein Panorama geformt wird. So entsteht sein „Imaginäres Museum“, in dem es die überdimensionalen Industrieobjekte gibt und das Urlaubsparadies auf der Krim, die Warteschlangen auf der Straße und die Berjoska-Läden als „Oasen des Überflusses“, die Gemeinschaftsküchen des sozialistischen Wohnens und das Leben mit acht Familien in einer Sechszimmer-Kommunalka, die unendlichen Eisenbahnlinien in einem Riesenreich und die Klosterinsel Solowki, wo im GULag „das Menschenmaterial umgeschmiedet“ (Maxim Gorki 1929) wurde. Ein Kapitel heißt „Das Klavier im Kulturpalast“. Mit dem Begriff Palast ging man recht großzügig um. Nahezu jedes Dorf hatte ihn, und jeder Kulturpalast hatte ein Klavier. Die Revolution hatte das Musikmöbel aus den großbürgerlichen Wohnungen ins sozialistische Eigentum überführt. Aber auch Triviales wird ins Blickfeld gerückt: Packpapier und Verpackung oder Nippes in den Regalen. Genau wie in einem realen sind in diesem „Imaginären Museum“ die Exponate nicht gleichwertig. Es gibt Hochkarätiges und Belangloses. Aber all das ergab eine eigene Lebenskultur, die die Menschen geformt hat, und die bis in die Gegenwart nachwirkt.
Durch die eigenwillige, gekonnte Gliederung wird dieses voluminöse Werk zu einer gut lesbaren, fast unterhaltsamen Lektüre, die neue Zugänge in ungewöhnliche Lebenskulturen schafft.


Wolfgang Schuller:
Die deutsche Revolution 1989
Rowohlt Verlag, Berlin 2009; 384 Seiten, mit dokumentarischen Fotos, 19,90 Euro; ISBN 978-3-87134-573-9

Mit dem bestimmten Artikel im Titel weist der Autor schon auf die Einmaligkeit des Ereignisses in der deutschen Geschichte hin. Wer Wolfgang Schuller auf der VERS-Tagung Pfingsten 2009 in Bad Kissingen gehört hat, weiß, mit welcher Kompetenz er für dieses Thema ausgestattet ist. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Geschichte in Konstanz. Folgerichtig stellt er die Ereignisse vom Herbst ’89 in ein historisches Umfeld und sieht sie als Wegmarke der deutschen Geschichte. Doch es war keine Revolution der Samtpfötchen, nicht beim Kaffeekränzchen hat man die Herren des Politbüros gebeten, die Macht abzugeben. Lautstark und schon bedrohlich zogen die Demonstranten durch die Straßen, und mit geballter Macht stürmten sie die Stasi-Zentralen. Deshalb nennt der Autor sie die gewaltfreie aber nicht friedliche Revolution.
Schuller ist für sein Buch den Spuren der Proteste gefolgt. Er hat die Orte aufgesucht und zwar nicht nur die damaligen Zentren, sondern auch Orte wie Bützow und Crivitz sowie Röbel und Güstrow; um nur einige zu nennen. Dort hat er die damaligen Bürgerrechtler aus den verschiedensten Gruppen befragt und die Erinnerungen festgehalten. Viele Zitate sorgen für Originalität. So zeigt er, dass sich die Revolution über das ganze Land, über große und kleine Städte und über die Dörfer erstreckte und dabei sämtliche Bevölkerungsschichten erfasste. In dem Ruf „Wir sind das Volk“ sieht er eine unbändige Kraft, die den Demonstranten Mut machte und der Polizei das Recht zum Handeln bestritt. An der Führung der Revolution waren ungewöhnlich viele, aber keine alles überragenden Personen beteiligt. Es gab keinen Lech Walesa und keinen Alexander Dub?k. Die deutsche Geschichte kennt nichts Vergleichbares.
Schuller geht auch der Frage nach, wie die oberste SED-Führungsschicht die Lage einschätzte und wie sie reagierte, als ihr die Macht bereits entglitten war. Er sucht außerdem nach Erklärungen für die gegenwärtig weit verbreitete Haltung der Verklärung der DDR-Vergangenheit.
In diesem Buch wird Geschichte nicht mit aufgereihten Fakten doziert, sie wird glänzend erzählt.

Peter Schulz:
Rostock, Hamburg und Shanghai - Erinnerungen eines Hamburger Bürgermeisters
Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt; Edition Temmen, Bremen 2009; 424 Seiten, 50 Abbildungen; 22,90 Euro, ISBN 978-3-8378-2001-0

Das Buch ist die Schilderung eines Lebens aus eigener Sicht, eine Autobiographie, aber von jemandem, der wirklich etwas zu sagen hat. Peter Schulz, Rechtsanwalt und seit Jahren dem VERS freundschaftlich verbunden, erzählt von seiner Kindheit in Rostock, seiner Flucht, seinem Studium in Berlin und seinem Leben in Hamburg. Wir hören immer wieder von „Zeitzeugen“ - hier ist einer.
Der Leser, wenn er Rostocker ist, wird sich besonders für das erste und das letzte Kapitel interessieren. Hier wird Rostock vor etwa 60 und 20 Jahren geschildert. Die Stadt Rostock, das sozialdemokratische Umfeld werden dargestellt. Peter Schulz´ Vater war der erste Oberbürgermeister nach dem II. Weltkrieg in Rostock bis 1949.
Durch zahlreiche Besuche in der DDR vor der Wende ergaben sich viele Begegnungen und Erfahrungen, u.a. auch mit den Grenzern und deren Schikanen von Seiten der DDR damals.
Die Karrierestationen in Hamburg bis zum Bürgermeister, die Zeit danach sind Gegenstand anderer Kapitel. Wichtig ist die, zumindest teilweise, Rückkehr nach der Wende nach Rostock, als Anwalt und als Berater des damaligen Oberbürgermeisters. Peter Schulz hat sich seiner Heimatstadt immer besonders verbunden gefühlt und unterstützte die Stadt und die neu gegründete SPD.
Was er bei seiner Schilderung niemals vergisst: ganz persönliche Dinge, wie z.B. die Liebe zu seiner Frau Sonja.
Er berichtet z.B. von der Beteiligung an der Aufklärung der Affäre Barschel im Westen und an einer Immobilien-Finanz-Affäre im Osten (der Name wird nicht genannt, aber jeder weiß, wer gemeint ist), die für den Leser sicher neu und interessant ist. Peter Schulz zeigt, wie man auch in schwierigen Situationen das Richtige tun kann.
Solche Berichte sind wichtig, weil man Geschichte hautnah erlebt und besser begreift. Man erfährt Hintergründe, die nicht in den Geschichtsbüchern zu finden sind und kann seine eigenen Urteile überprüfen.



Berndt Seite, Annemarie Seite, Sibylle Seite
Gefangen im Netz der Dunkelmänner
Bertuch Verlag, Weimar 2015, 221 Seiten, A4-Format, broschiert,  mit vielen Dokumenten und Belegen aus den Stasi-Akten. 19,50 Euro, ISBN 978-3-863-97-052-9

„In Diktaturen gehören Terror und die Ausschaltung von politischen Gegnern zum Handwerkszeug. Diese Maßnahmen sind systemimmanent, denn ohne sie ist eine Diktatur nicht aufrechtzuerhalten“ – so beginnt Berndt Seite sein neuestes Buch. In einem fiktiven Interview schildern die Eheleute Berndt und Annemarie Seite sowie deren Tochter Sibylle wie sie über Jahre von der Stasi mit allen erdenklichen Mitteln und Methoden drangsaliert worden sind. Die gesamte Palette von Überwachung und Zersetzung bis zur Eröffnung eines „operativen Vorgangs“ setzte das MfS ein. Mehr als 40 IM haben dafür gesorgt, dass eine Akte von über 6.000 Seiten in den Stasi-Archiven entstanden ist. Selbst die eigene Tochter versuchte man als Spitzel gegen ihn zu gewinnen. Aber nichts konnte man Berndt Seite nachweisen.
Bereits während seiner Studienzeit hatte die Stasi sich vergeblich bemüht, Berndt Seite als Informant zu gewinnen. Als er dann 1977 in die Synode der Evangelischen Kirche gewählt wurde, geriet er erneut ins Visier des MfS. Nachdem er mehrmals deutlich jede Zusammenarbeit abgelehnt hatte, wurde eine „politisch-negative Haltung zu gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen in der DDR“ in seinen Akten vermerkt. In seinem Beruf als Tierarzt wurde er streng überwacht, um ihm ein Fehlverhalten nachzuweisen. Aber auch diese perfiden Bemühungen blieben erfolglos. 1989 verfügte das MfS dann, dass Berndt Seite bei einem eventuellen politischen oder militärischen Konflikt in die Untersuchungshaftanstalt Neubrandenburg eingeliefert werden sollte, da er ein direktes Risiko für die DDR darstellte. Seine Frau sei in ein sogenanntes Isolierungslager einzuweisen. Man hatte vorgesorgt, doch die Geschichte verlief bekanntlich anders..
Für Berndt Seite war mit dem Ende der DDR-Diktatur aber nicht auch das Ende der heimtückischen Anfeindungen erreicht. Nachdem er bereits ein Jahr als Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern im Amt war, wurde das Gerücht gestreut, Seite sei Zuträger der Stasi gewesen. Auch aus der eigenen Landtagsfraktion kamen diese Vorwürfe. Seite konnte alle Unterstellungen widerlegen. Die Stasi-Akten sprachen für ihn.
Mit diesem Buch wollte Berndt Seite nicht nur seine eigene Vergangenheit aufarbeiten, er wollte vielmehr einen Beitrag gegen das bewusste aber auch gegen das unbewusste Vergessen liefern und ebenso über die Machtverhältnisse in der Diktatur aufklären.


Siegfried Suckut (Hrsg.)
Volkes Stimmen – „Ehrlich, aber deutlich“
dtv-Verlagsgesellschaft, München 2016, 576 Seiten,  mit 248 Dokumenten  und einem Sachregister zum Dokumententeil, gebunden; Preis  26,90 Euro; ISBN 978-3-423-28084-6

„Werter Genosse Honecker! Wir, das heißt Arbeiter eines nahe gelegenen Großbetriebes, halten es für notwendig, Dich über einige wesentliche Dinge zu informieren, damit Du Dich mit den Genossen von Partei und Regierung nicht trügerischen Hirngespinsten hingibst. …“

Solche und ähnliche Briefe an die Staatsführung der DDR hat der Autor aus einer nahezu unendlichen Anzahl von Stasi-Akten gesichtet und daraus ein DDR-Bild aus einer ungewöhnlichen Perspektive entwickelt. Erwähnenswert sind die außerordentlich aufschlussreichen Fußnoten, die oftmals die Hintergründe eines Textes verdeutlichen. Entstanden ist so eine Dokumentation zur Zeitgeschichte aus erster Hand; Suckut nennt sie „O-Töne aus der Bevölkerung“.
Es ist eine Auswahl von fast 250 Briefen, die von der Stasi aus dem Postverkehr entwendet wurden und ihre Adressaten nie erreichten. Ein staatliches Organ hat also den Briefverkehr der eigenen, staatlichen Institutionen boykottiert! In jedem Rechtsstaat wäre das ein Skandal.
Der Inhalt dieser Briefe ist sehr unterschiedlich. Zum Teil sind es grobe Wutausbrüche, mit denen die Verfasser Staat und Partei hemmungslos beschimpfen. Es sind aber auch sachlich begründete Beschwerden als Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit der Bevölkerung. Der tägliche Mangel an den einfachsten Versorgungsgütern wird angesprochen und ebenso der große Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit im sozialistischen System. Menschen, die unter der Behördenwillkür im Alltag zu leiden hatten, schreiben z.B. an den Staatsratsvorsitzenden, weil sie noch an das System glauben. Manchmal sind es sogar Genossen oder Arbeitskollektive eines Kombinats, die auf Missstände hinweisen in der Annahme, dass „die da oben“ davon keine Kenntnis haben.  „Wie sollen wir die Produktion steigern,  wenn wir kein Werkzeug  haben?“  „Ihr werdet von den unteren Funktionären nur belogen!“ „Kommt doch endlich einmal unangemeldet in die Betriebe, andernfalls wird alles geschönt!“ Wohlweislich wurden die meisten Briefe anonym verfasst, einige weisen jedoch Unterschrift und volle Adresse auf. Solche Worte durften Partei- und Staatsführung nicht erreichen. Täglich wurden etwa 100 000 Briefe auf solche Inhalte kontrolliert und auch konfisziert.
In einem besonderen Kapitel „Briefe an West-Adressen“ sind Briefe an die Bundesregierung, den Bundestag, westliche Rundfunkanstalten und andere Institutionen zusammengestellt. Manch einer hat so versucht, seine Meinung öffentlich zu machen. Die Stasi wusste das zu verhindern. Nach dem Sprichwort „Der Lauscher an der Wand …“ musste sie ihre eigene Schand‘ zur Kenntnis nehmen.
Aussortiert wurden Briefe an westdeutsche Politiker, selbst dann, wenn darin beispielsweise die Entspannungs- und Ostpolitik der Bundesregie-rung gelobt wurde. Ein anderer DDR-Bürger schickte zwei textgleiche Briefe an Helmut Schmidt und Erich Honecker und wünscht Erfolg für die bevorstehenden Ost-West-Gespräche beim Treffen 1981 am Werbellinsee in Schloss Hubertusstock – auch so etwas wurde Opfer des großen Zensors.
Die in diesem Buch vom Herausgeber vorgelegten Briefe sind einmalige Zeitzeugnisse von absoluter Authentizität. Sie geben über Jahrzehnte – von 1964 bis 1989 - sowohl ein Stimmungsbild der Bevölkerung als auch die Angst der Diktatur vor dem eigenen Volk wieder. Ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ist damit entstanden.


Uwe Tellkamp:
Der Turm
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 976 Seiten, gebunden. Preis 24,80 Euro, ISBN 978-3-518-42020-1

Ein Gesellschaftsroman von buddenbrookschem Format – so steht es im Klappentext dieses monumentalen Panoramas der untergehenden DDR. Die Handlung ist frei erfunden und doch ist sie wahr. Dieser Roman beschreibt die Alltäglichkeit des Real existierenden Sozialismus in seiner Gesamtheit deutlicher als es jede über einzelne Facetten angelegte Dokumentation kann.
In Dresden im Stadtteil Weißer Hirsch versucht das alteingesessene Bildungsbürgertum zu überleben, indem es sich gegen alle äußeren Einflüsse abkapselt. Gepflegte Hausmusik, großzügige Familienfeiern, die Liebe zu alten Büchern und allgemein zur schönen Literatur bestimmen zunächst das Leben in dieser scheinbaren Oase der Glückseligen. Doch gegen die rigorosen Ansprüche des DDR-Sozialismus kann die Flucht in eine Kulturversunkenheit keinen dauerhaften Ausweg bieten. Der Strom erfasst sie alle unweigerlich: Repression, Misstrauen, Angst, Denunziation und Erpressung. Die NVA, in der der junge Christian Hoffmann, die Zentralfigur der Handlung, fast zerbricht, wird in ihrer eigenen, brutalen Sprache beschrieben. Wohl noch nie wurde bisher das Leben in der DDR so schonungslos und in solch sozialgeschichtlicher Weise offen gelegt. Hervorragend ist aber nicht nur der knappe Inhalt dieses Buches konstruiert, sondern auch einmalig die Form, der Stil, in dem die einzelnen Bilder in einer authentischen Sprache gehalten sind. Literaturbewanderte werden sich an große Vorbilder erinnern.
Es sind die letzten sieben Jahre der DDR-Existenz. Ständig ticken und schlagen Uhren – die Zeit läuft ab, und so strebt alles dem Untergang entgegen, um in den Herbst 1989 einzumünden. Aber dann auf einmal …
Wahrscheinlich ist „Der Turm“ der große Wenderoman, auf den die Öffentlichkeit seit langem wartet. Der verliehene Deutsche Buchpreis macht eine Empfehlung an dieser Stelle überflüssig.


Peter Uebachs:
Stasi und Studentengemeinde  -
Überwachung der katholischen Studentengemeinde in Rostock durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR von 1960 bis 1970
Kommentierte Dokumentation von Akten aus den Archiven des BStU. Gefördert durch die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
Heinrich-Theissing-Institut Schwerin 2014, 284 Seiten, DIN-A-4-Format, broschiert, mit vielen Fotos und Dokumenten. Schutzgebühr 10 Euro, ISBN: 978-3-9814985-2-3

Bezugsmöglichkeit im Fachhandel oder unter E-Mail: kontakt(at)hti-schwerin.de

Der Band enthält die Berichte der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) über die Aktivitäten der Katholischen Studentengemeinde (KSG) Rostock und die Treffberichte der Führungsoffiziere aus den Beständen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU). Sie sind z.T. handschriftlich als Faksimile wiedergegeben, was die Lesbarkeit gelegentlich erschwert.
Die beiden Kirchen waren die einzigen von der SED weitgehend unabhängigen Institutionen in der DDR. So waren sie - und ihr Nachwuchs, die Studentengemeinden - zwangsläufig Ausspähobjekte des MfS; die Evangelische Studentengemeinde stand dabei im Zusammenhang mit der Kampagne gegen die Junge Gemeinde zunächst im Vordergrund. Die Studentengemeinden waren für ihre Mitglieder als geistige Orientierung von unersetzlichem Wert. Es ist erschreckend, dass die Spitzel (z.T. eingeschleuste) Mitglieder der KSG waren, wie aus einer Reihe von zitierten Verpflichtungserklärungen hervorgeht. Die Motive bleiben im dunkeln; auch wenn meistens formelhaft „der Kampf gegen alle Feinde der DDR“ angegeben ist.
Ihre Berichte sind eine beklemmende Lektüre; sie belegen die dichte Überwachungspraxis und die perfiden Zersetzungsabsichten des MfS. Viele junge Menschen wurden gebrochen und ihrer Zukunftsperspektiven beraubt. Überraschenderweise lösten die spektakulären politischen Ereignisse in der Berichtszeit - der Mauerbau 1961; der Prager Frühling 1968 - kaum Reaktionen aus. Unendlich viel nebensächlicher Kleinkram findet sich, aus dem aber mosaikartig Informationen über die KSG zusammengesetzt werden konnten. Nebenbei entsteht so ein Bild des Gemeindelebens der KSG in Rostock, das weniger von lokalen Vorgängen als von den Problemen der Kirche im Sozialismus und der Weltkirche geprägt war. Bemerkenswert sind dabei die ökumenischen Bemühungen wie in einer Reihe gemeinsamer Veranstaltungen mit der Evangelischen Studentengemeinde.
Der Band erhellt an dem gesonderten Objekt KSG die Arbeitsweise des MfS von der Rekrutierung der Spitzel, ihrer Führung durch psychologisch geschulte Offiziere bis zur Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse.



Markus Wehner
Putins Kalter Krieg - Wie Russland den Westen vor sich hertreibt
Knaur Verlag, München 2016, Taschenbuch, 192 Seiten; Preis  12,99 Euro;   ISBN  978-3-426-78814-1

Der Autor ist absoluter Insider. Nach dem Studium der Osteuropäischen Geschichte hat er sich über 30 Jahre intensiv mit der politischen Entwicklung in Russland befasst. Er hat in Moskau die Zeit der Perestroika in der Spätphase der Sowjetunion  und die Jelzin-Ära miterlebt. Danach war er fünf Jahre als Korrespondent der FAZ vor Ort. Enge Kontakte verbinden ihn noch heute mit Russland. In der FAS liefern seine allsonntäglichen Aufsätze hervorragende Information.

In einer scharfsinnigen Analyse werden die Hintergründe der Politik Putins deutlich gemacht. Das Ziel dieser Politik wird klar: Russland soll wieder eine Großmacht werden, die einzig und allein mit den USA auf Augenhöhe korrespondiert. Dazu liefert der Autor hinreichende Beispiele. Um das zu erreichen, setzt Putin längst nicht mehr die Methoden des Kalten Krieges, der vergangenen Ost-West-Konfrontation ein. Neben der militärischen Brachialgewalt, wie sie in der Ostukraine und bei der Krim-Annexion angewandt wurde, sind diffizilere Methoden im Spiel. Propaganda, Provokation, Falschinformation und Zersetzung sowie die Verbreitung einer Angst vor äußerer Bedrohung sind die neuen Waffen. Die Unberechenbarkeit seines Handelns ist dabei ein ganz besonderer Unsicherheitsfaktor für die westliche Politik. Hierfür hat Putin systematisch sich sein eigenes Umfeld geschaffen. Etwa 70 Prozent der Mitglieder der politischen Führung stammen aus den Kadern des KGB und der Armee. Damit ist eine militärische Hierarchie von Gehorchen und Befehlen gesichert. Der Autor bezweifelt, dass der Westen auf diese Strategie vorbereitet ist. In der Bilanz seiner Analyse stellt Wehner zehn Thesen auf, nach denen der Westen in Putins Kaltem Krieg bestehen kann.   
Der flüssig lesbare, eingängige Text zeigt die journalistische Brillanz des Autors. Markus Wehner hat damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der aktuellen politischen Ost-West-Spannungen vorgelegt, der zur Lektüre einlädt.


Gerald Wiemers (Hrsg.)
Der Aufstand - Zur Chronik des Generalstreiks 1953 in Workuta, Lager 10, Schacht 29

Leipziger Universitätsverlag 2013, 162 Seiten, broschiert, mit vielen Abbildungen und einem Grußwort des Bundespräsidenten Joachim Gauck. Preis  24,- Euro;   ISBN  978-3-86583-780-6

Das Buch ist bereits vor einiger Zeit erschienen, war aber lange nicht verfügbar. Seine besondere Bedeutung gestattet aber eine etwas verspätete Vorstellung.
Eröffnet wird diese Chronik mit einem ergreifenden Geleitwort von Horst Schüler, das für sich alleine stehen könnte. Es war der Aufstand der Verzweifelten, die unter unmenschlichen Bedingungen in einer lebensfeindlichen Region nicht weiterhin als Sklaven schuften wollten. Nach Stalins Tod im März 1953 waren bei ihnen neue Hoffnungen auf baldige Heimkehr entstanden. Die Kenntnis vom Aufstand am 17. Juni in Deutschland hatte auch das weit entfernte Workuta erreicht, und ebenso die Entmachtung und Verhaftung des verhassten Geheimdienstchefs Berija machten Mut. Die Gefangenen forderten, dass ihre absolut willkürlichen SMT-Urteile überprüft werden. Am 1. August 1953 standen Tausend am Tor auf der Lagerstraße und verlangten nach Recht. Gewehrkugeln waren die Antwort und 64 Gefangene waren tot, 123 verletzt.
In Zusammenarbeit mit der Lagergemeinschaft Workuta/GULag sind nun die Abläufe, die zu diesem Massaker führten, von verschiedenen Autoren zusammengetragen. So berichten Beteiligte – Deutsche und Russen – die dabei waren sowie Historiker in vielen Einzelheiten über das damalige Ereignis. Mehr als 50 Jahre später fuhr eine kleine deutsche Reisegruppe in Erinnerung an die Schrecken der kommunistischen Gewalt nach Workuta. Edda Ahrbergs Bericht „Eine Reise in die Vergangenheit und Gegenwart einer geschundenen Region“ schließt diese Chronik, die in unserer Erinnerung Bestand haben sollte. Dafür ist dieses Buch wichtig.


Friedrich-Franz Wiese:
Zum Tode verurteilt! - Überleben im GULag
β-Verlag und Medien GbR, Rostock 2009; 222 Seiten, zahlreiche Abbildungen von Dokumenten und zeitgenössischen Fotos, mit einem Vorwort von Horst Schüler. 15 Euro; ISBN 978-3-940835-18-5

Es ist der Weg von der Verhaftung bis zur Rückkehr aus dem GULag. Mit dem Abstand der Jahre beschreibt Wiese den Weg durch die unvorstellbaren Schrecken von Unrecht und Gewalt. Fast ohne Emotionen gelingt es ihm, auch den Nachgeborenen seine Erlebnisse und Empfindungen eindrucksvoll zu schildern.
Friedrich-Franz Wiese und Arno Esch wurden am 18. Oktober 1949 als Studenten in Rostock verhaftet. Mit den unsinnigsten Vorwürfen wurde eine Gruppe Esch konstruiert, und so standen 14 junge Liberaldemokraten vor einem sowjetischen Militärtribunal in Schwerin. Vier Todesurteile, der Rest jeweils 25 Jahre Arbeitslager, einige davon mehrfach – das war das erste Urteil. Ein zweiter Prozess folgte, und noch einmal wurden drei weitere Todesurteile gesprochen, jetzt auch gegen Wiese. Von den sieben Todeskandidaten hatte nur einer unvorstellbares Glück: Wiese wurde begnadigt zu 25 Jahren Straflager.
Wie lebt man über mehrere Monate auf der Schwelle des Todes, ohne jeden Kontakt zur Familie, ohne dass jemand von dem bedrohlichen Schicksal der spurlos Verschwundenen etwas weiß? Dann folgt die eiskalte Konfrontation mit einem der Mächtigen, der aber voller Arroganz die Rückkehr ins Leben nicht mit Worten ausdrückt, sondern nur mit höhnischen Gesten und Papierkritzeleien, mit „nix puh - 25“ das Erhoffte aber nicht zu Erwartende andeutet. Was dann auf dem langen Weg durch die Lager Sibiriens folgt, wird in vielen kleinen Erlebnisberichten erzählt, die sich zu einem Gesamtbild formen. Wer Friedrich-Franz Wiese irgendwann gehört hat, wird den Tonfall seiner Stimme aus dem Text wahrnehmen. Er steht dabei nahezu auf Distanz zu sich selbst und macht so im hohen Maße betroffen. Er schreibt von Willkür und kleinen Menschlichkeiten des Wachpersonals, von permanentem Hunger und unerschütterlicher, hoffnungsvoller Zuversicht, von lebenzerstörender Schinderei in den Wäldern Sibiriens und von den stets bewahrten menschlichen Bindungen. Seinem Vater, der alleine zu Hause sitzt, denn Mutter, Schwester und Bruder sind ebenfalls verhaftet, spricht er in einem Brief Mut und Hoffnung zu und bittet dieses weiterzugeben.
„Es gibt Bücher von denen man sagt, das müssten alle lesen. Dies hier ist so ein Buch“, schreibt Horst Schüler in seinem Vorwort.
Diese Erinnerungen drücken das Anliegen von Friedrich-Franz Wiese aus, niemals zu vergessen, wohin der Verlust der Freiheit führt. Das Manuskript konnte er noch abschließen. Das fertige Buch hat er nicht mehr gesehen. Am 5. Oktober 2009 ist Friedrich-Franz Wiese gestorben. – „Ich hatte sehr viel Glück in meinem Leben“, war das Letzte, was ich kurz vor seinem Tode von ihm gehört habe.


Doris Wiesenbach
Grenzenlos – Deutsch-deutsche Kurzgeschichten
Anthea Verlag, Berlin 2014, Taschenbuch, 267 Seiten, 12,90 Euro, ISBN 978-3-943583-31-1

Es ist ein kleines Büchlein, aber es gibt einen recht guten Einblick in das Leben in der DDR. In 15 Alltagsgeschichten werden einzelne Ereignisse beschrieben, wie sie viele damals erlebt haben und die durchaus ihren Platz in der Erinnerungskultur einnehmen sollten. Die Autorin greift dazu auf Tatsachen zurück, die sie dann lediglich literarisch aufbereitet. Für die Nachgeborenen tut sich dabei eine völlig fremde, unverständliche Welt auf. – Da kommt eine Frau vom Verwandtenbesuch aus der DDR zurück und findet in ihrem Gepäck die Brieftasche mit allen  Papieren ihrer dort lebenden Cousine. Jede legale Rückgabe ist unmöglich, ebenso mit Ostpapieren in der Tasche dort erneut einzureisen. Was nun? – Andere Geschichten erzählen, wie es gelingen konnte mit Einfallsreichtum und List der Stasi ein Schnippchen zu schlagen. – So beweist jede Geschichte für sich die ganze Absurdität der SED-Diktatur. Besonders denen, die die DDR nicht erlebt haben, sollte man dieses Büchlein in die Hand geben.

Günther Wildenhain
Aus dem Berufsleben eines Mathematikers -
Forschung, Lehre und Hochschulpolitik in zwei Gesellschaftssystemen

Herausgeber: Deutscher Hochschulverband Bonn
erschienen in der Reihe Forum, Heft 86, 2017, broschiert, 349 Seiten, viele Abbildungen
Preis: 17,- Euro,  ISBN  978-3-944941-05-9

Im Zusammenhang mit der Ausstellung "Menschen – Wissen – Lebenswege", die vom 21. Juni bis zum 30. November 2019 im Kulturhistorischen Museum Rostock Einblicke in die 600-jährige Geschichte der Universität Rostock geben und somit auch die Zeit nach der Wiedervereinigung veranschaulichen sollte, muss auf ein vor einigen Monaten erschienenes Buch des Altrektors der Universität Rostock, Prof. Dr. Günther Wildenhain, hingewiesen werden. Dargestellt ist die Überführung der Universität Rostock von einer parteipolitisch gelenkten Hochschule während der SED-Diktatur in eine freie, unabhängige Universität in einem demokratischen Rechtsstaat.

Es ist das Anliegen des Autors, Vergangenes zu bewahren und ganz besonders den heutigen aktiven Wissenschaftlern die Ereignisse und Probleme aus der Zeit der Erneuerung der Universitäten und Hochschulen des Landes Mecklenburg-Vorpommern nahezubringen. Seine Erfahrungen als Hochschullehrer und Hochschulpolitiker geben hierfür die wohl einzigartigen Voraussetzungen.

Von März 1991 bis September 1993 war Günther Wildenhain von der Universität Rostock ins Kultusministerium in Schwerin gewechselt. Thomas de Maizière - von 1990 bis 1994 Staatssekretär im Kultusministerium von Mecklenburg-Vorpommern - hatte ihm die Leitung der Abteilung Wissenschaft und Forschung (Hochschulabteilung) übertragen. In dieser Funktion hatte er entscheidenden Anteil, die Voraussetzungen für die Erneuerung der Universitäten des Landes zu schaffen. Später, als er dann Rektor der Universität Rostock geworden war, musste er diese Vorgaben umsetzen. Natürlich waren bei diesen Vorgaben auch Fehler geschehen. Wohl übertrieben sowie etwas salopp und selbstironisch sagt er: "Ich musste ausbaden, was wir angerichtet hatten!"
Die Zeit im Kultusministerium und die folgenden Jahre in Rostock sind vielleicht der wichtigste Abschnitt in diesem Buch. Hier bekommt der Leser Einblick in die Tätigkeit des Autors während seiner Schweriner Zeit. Wie er dort z. B. in den nationalen Gremien, ob Kultusministerkonferenz oder Deutsche Forschungsgemeinschaft, durch seine DDR-Erfahrungen wertvolle Beiträge einbringen konnte. Aber auch schmerzhafte Entscheidungen für die Universität Rostock hatte er im Amt zu treffen. Es sind viele Einzelheiten, die in diesem Zusammenhang nie so offen dargelegt wurden.

Die Liebe zur Mathematik und die geringe Zuneigung zum Leben als Verwaltungsbeamter führten Günther Wildenhain zurück an die Universität Rostock. 1998 wurde er zum Rektor gewählt, dieses Amt hat er bis 2002 zum Wohle der Universität ausgeübt. Als einen persönlichen Erfolg innerhalb seines Rektorates bezeichnet er die Existenzsicherung und Überführung der bis dahin kleinen Richard-Wossidlo-Arbeitsgruppe als eigenständiges Wossidlo-Institut in die Philosophische Fakultät. Damit war das Erbe des bedeutenden mecklenburgischen Volkskundlers gesichert. Besondere Betonung findet ebenfalls die Gründung der "Annemarie und Hans-Günther Hoppe Stiftung" zum Wohle der wiedergegründeten Juristischen Fakultät. In dem Zusammenhang wird an die Freundschaft zwischen Hans-Günther Hoppe und Arno Esch erinnert. Ein kurzer Gedankenweg führt von Arno Esch zum VERS, der dessen politisches Erbe bewahrt. "Über den VERS kann man nicht berichten, ohne die grandiosen Leistungen seines Gründers und langjährigen Vorsitzenden Dr. Hartwig Bernitt zu würdigen. Die Gründung des VERS und die vielfältigen Aktivitäten unter seiner Leitung, vor allem nach der deutschen Wiedervereinigung, kann durchaus als eine historische Tat angesehen werden."

Allein schon der tiefgehende Bericht über den Zeitraum der strukturellen Erneuerung der Universität rechtfertigt es, dem Buch ein weit verbreitetes Interesse zu wünschen. Heutige Studenten und ebenso Dozenten sollten sich ein Bild von dieser Zeit machen.


Stefan Wolle
Der große Plan  -  Alltag und Herrschaft in der DDR 1949 - 1961
Ch. Links Verlag, Berlin 2013, 438 Seiten, gebunden; 29,90 Euro, ISBN 978-3-86153-738-0

Mit diesem Band, der die Gründungsphase und die Frühzeit der DDR beschreibt, schließt der Autor seine Trilogie zur Geschichte der DDR ab. Bereits 1998 war der erste Teil mit dem Titel „Die heile Welt der Diktatur“ über die Vorgänge 1971-1989 erschienen. Der zweite Teil „Aufbruch nach Utopia“  behandelt die ersten zehn Jahre nach dem Mauerbau, die Zeit von 1961 bis 1971. Stefan Wolle hat sich also aus der Endzeit der DDR bis in den Herbst 1949 zurück orientiert und dabei ein sehr detailliertes Bild von dem Staat gezeichnet, der das bessere Deutschland sein wollte und in seiner eigenen Ideologie erstickt ist. Gerade dieser jetzt vorgelegte Band  „Der große Traum“ scheint besonders wichtig, da die geschilderten Ereignisse nahezu ein Menschenleben zurück liegen und aus der persönlichen Erinnerung verschwinden.

Das Buch ist alles andere als ein nüchternes Geschichtsbuch. In einem erfreulich lebendigen Stil werden immer wieder kleine, scheinbar unbedeutende Randerscheinungen in das große Geschehen eingeflochten, sodass viele Einzelheiten ein Gesamtbild ergeben. Der Autor hat also nicht nur die großen politischen Ereignisse ins Bild gesetzt, sondern die Alltagsgeschichte, das tägliche Leben in der Diktatur, immer wieder ins Blickfeld gerückt. Als Quellen dienen ihm neben den historischen Texten auch Filme, Romane, Liedtexte, Stasi-Akten und Zeitzeugenberichte. Schon im Prolog „Vom Wiegenfest zur Totenfeier“ überzeugt seine Sprache, die Situationen lebendig wirken lässt. Da wird der Fackelzug am 6. Oktober 1989, dem Vorabend zur 40-Jahrfeier, im Zentrum Berlins geschildert, der an das entsprechende Jubelereignis zur Gründung der DDR 1949 inszeniert war. Doch statt der erwarteten Huldigung des Politbüros hieß es „Gorbi, Gorbi!“ Natürlich wird auch die Frage gestellt, warum die Gründungszeremonie 1949 nach dem gleichen Ritual erfolgte wie der Fackelzug der SA am 30. Januar 1933. In dem folgenden, in sechs Abschnitte gegliederten Text werden die großen Wegmarken chronologisch betrachtet. Und immer wieder zeigt Stefan Wolle den grotesken Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit. Er entlarvt das System.
Dieser Band fügt sich nahtlos in die Gesamtheit seiner umfassenden Arbeit ein und macht damit die Trilogie „Alltag und Herrschaft in der DDR“ ganz sicher mit zum Besten, was bisher an  Literatur über den SED-Staat erschienen ist. Man sollte es unbedingt lesen.


Christoph Wunnicke
Die Blockparteien der DDR – Kontinuitäten und Transformation 1945-1990
Band 34, Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Berlin 2014, 157 Seiten, broschiert.
Bezugsadresse: LStU-Berlin, Scharrenstr.17, 10178 Berlin (unter Beilage von 1,- Euro als Porto)

Die Geschichte der Blockparteien in der SBZ/DDR ist bisher eigentlich nur für die CDU und die LDP in den ersten Jahren annähernd erforscht. Über die Vorgänge in der Endphase ihrer Existenzen ist bisher wenig publiziert worden

Für die NDPD und die Bauernpartei gilt das durchgehend. In dem vorliegenden Text versucht der Autor auf der Grundlage vorgefundener Forschungsergebnisse und teilweise unveröffentlichter Quellen die Transformation der vier Blockparteien anhand ihrer teilweise kaum bekannten Vorsitzenden skizzenhaft nachzuvollziehen. Mit dieser Betrachtungsweise gelingt ein breites und aussagestarkes Spektrum, das die Entwicklung der Blockparteien deutlich macht.

Die Schwerpunkte liegen dabei auf der Gründungs- und Endphase der jeweiligen Parteien. Exemplarisch wird so der Weg der LDP deutlich durch den Vergleich der Porträts von Waldemar Koch und Wilhelm Külz mit Hermann Kastner und Karl Hamann und mit Manfred Gerlach und Rainer Ortleb. Ebenso wie in der LDP setzten sich in der CDU jüngere, von der SED gestützte Kader gegen alte und junge bürgerliche Kader mit „reaktionären“ Ansichten durch. Die Gegenüberstellung von Arno Esch mit Manfred Gerlach - beide Jahrgang 1928 - wird dafür beispielhaft angeführt.

Sehr gut spiegeln sich in diesen Porträts auch die dramatischen Vorgänge innerhalb von CDU und LDPD im Herbst ‘89 und Anfang ‘90 wider. Gerald Götting hatte über mehr als 20 Jahre der CDU vorgestanden und sie zum absoluten Vasallen der SED gemacht. Jetzt war seine Zeit abgelaufen. Mindestens ebenso dramatisch verlief der Umbruch in der LDPD. Manfred Gerlach hatte über Jahrzehnte den Führungsanspruch der SED vertreten. „Die LDPD müsse ihre Politik an der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse orientieren.“ Im Februar 1990 übernahm Rainer Ortleb den Vorsitz der Partei und führte sie in die FDP. Seine Verstrickungen in der Vergangenheit – die der Text sehr deutlich macht - haften ihm jedoch an. Aus heutiger Sicht muss seine Rede am 28. Februar 1990 in der Aula der Universität Rostock als Beleidigung empfunden werden, als er Arno Esch als Weltbürger und Liberaldemokrat feierte. Jahre zuvor war er auf dem LDP-Parteitag in NVA-Uniform aufgetreten, auf die er voller Stolz verwies.

Der Umfang der Broschüre gestattet keine erschöpfende Behandlung des Themas, aber in seiner fundierten Aussage wird ein außerordentlich lesenswerter Text vorgelegt, der besonders bei denen, die persönliche Erinnerungen an die Frühzeit und die Entwicklung der ehemals bürgerlichen Parteien in der SBZ/DDR haben, auf großes Interesse stoßen wird.

Tobias Wunschik
Honeckers Zuchthaus – Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR  1949-1989
Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) - Band 51.
Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2018; 1017 Seiten,
29 Abbildungen und 22 Tabellen. Umfangreiches Literaturverzeichnis.
Preis 70,-  Euro; ISBN  978-3-525-35124-6



„Honeckers Zuchthaus“ – ein eindeutig zweideutiger Titel!
Viel wurde bisher nicht über den Riesenkomplex in Brandenburg an der Havel publiziert. Doch eigentlich gibt es keinen vertretbaren Grund, warum das „Gelbe Elend“ in Bautzen – schon das Wort Bautzen ist zum Synonym geworden - weit mehr ins allgemeine Bewusstsein der politischen Aufarbeitung gelangt war. Beide Zuchthäuser waren Schreckensorte der DDR-Diktatur, die Häftlingsstrukturen waren die gleichen. Aber in Bautzen hat sich nach 1990 eine Initiativgruppe gebildet, die alljährlich im Bautzen-Forum die ehemaligen politischen Gefangenen zusammenführt. Ähnliches gibt es in anderen Städten, in denen sich berüchtigte DDR-Haftanstalten befunden hatten, aber nicht in Brandenburg. Dieser Verschwiegenheit hat Tobias Wunschik nun ein Ende gemacht. Er hat die vierzig Jahre, die das dortige Zuchthaus zum „Gläsernen Sarg“ werden ließen, aufgearbeitet.

Mit wissenschaftlicher Akribie hat er das Leben in einem der größten Zuchthäuser der DDR im Gesamtrahmen des politischen Strafvollzugs über die vier DDR-Jahrzehnte gründlich durchleuchtet. In dem voluminösen Werk hat er die Ergebnisse seines intensiven Aktenstudiums in allen möglichen Archiven mit mehr als 5000 Fußnoten belegt. Darüber hinaus hat er in ganzer Breite die Sekundärliteratur durchforstet, in der die Zeitzeugen ihre Erfahrungen festgehalten hatten, was gerade für die Frühzeit wichtig ist, in der die Aktenlage gewiss dürftiger ist als in den späteren Jahren.

Um aus all dem eine möglichst differenzierte Sicht zu liefern, hat er den Stoff in vier große Kapitel geteilt: Der Strafvollzug – Die Gefangenschaft – Die Häftlinge – Die Staatssicherheit. Aus den so gewählten Perspektiven entwickelt sich in weiteren Untergliederungen ein Einblick speziell in den Mikrokosmus der Haftanstalt Brandenburg-Görden und allgemein in den politischen Strafvollzug der DDR 1949-1989. Selbstverständlich unterlag beides innerhalb von vierzig Jahren, in denen etwa 700 000 Häftlinge die Haftanstalten der DDR durchliefen, einer Entwicklung. Stalins Tod, der 17. Juni 1953, der Mauerbau, der Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker u.a. waren Ereignisse, die den Strafvollzug beeinflussten. Dem ist der Autor in historischer Verpflichtung gefolgt.
Anfang der 1950er Jahre herrschten Hoffnungslosigkeit und Existenzangst unter den vom Hunger gezeichneten Gefangenen. Die hygienischen und medizinischen Verhältnisse waren katastrophal. Das Leben fand auf unterstem Niveau statt. Aber der Zusammenhalt, die Kameradschaft unter den Gefangenen war groß. Nur ein ganz kleiner Anteil waren kriminelle Häftlingen, die sich aber bereitwillig integrierten. Es gab deutlich die Innen- und die Außenwelt, wobei letztere der Bereich vor der Zellentür war. Es drang kaum etwas aus den Zellen nach draußen, denn das Spitzelwesen der IM hatte zu dieser Zeit noch keinen Eingang in die Häftlingsgesellschaft gefunden. Das änderte sich bekannterweise in den späteren Jahrzehnten. Dieser ständig wachsende Einfluss des MfS auf den gesamten Strafvollzug wird in dem Buch sehr deutlich gemacht. So wirkten nicht nur innerhalb des Wachpersonals und in den Zellen die Stasi-Spitzel, sondern auch Häftlinge wurden als IM auf das Personal angesetzt. In der letzten Phase der DDR-Existenz beherrschte das MfS den Strafvollzug auf allen Ebenen, selbst die Anstaltsleitung wurde bespitzelt.

Ohne irgendwelche Emotionen – was man zuweilen vermisst – legt der Autor die Fakten vor und liefert dabei die Antworten, die ich vor zwanzig Jahren vom Vertreter der Anstaltsleitung nicht erhalten konnte, als ich als Betroffener und nun Recherchierender mit Genehmigung des Justizministeriums des Landes Brandenburg die Haftanstalt besuchte. Meine damaligen Fragen, z. B. zu Statistiken über Belegzahlen, Häftlingskategorien, Sterblichkeit insbesondere zu Suiziden, blieben in vermeintlicher Unkenntnis unbeantwortet. Ebenso die Fragen nach den Vorgängen innerhalb des Zuchthauses im Herbst 1989 und nach einem doch wahrscheinlichen Gefangenenaufstand in deren Folge. Tobias Wunschik liefert diese Antworten nun aus den Akten. Damit hat er sichtbar gemacht, was nicht vergessen werden darf. Er zeigt die Innenansicht eines Gefängnisses und damit die Verbrechen des SED-Staates. Dafür sei ihm Dank und Anerkennung gezollt.




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